Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
Fritsche‹ stand darauf zu lesen.
Ich Idiot, beschimpfte er sich im Stillen, es geht überhaupt nicht um Hanne, es geht um diesen Stalker. Natürlich, der wohnt ja auch hier. Hat mir Hanne doch selbst erzählt. Mann, Mann, Mann.
»Wolf, da bist du ja endlich«, empfing ihn Krummenacker, der inzwischen ebenfalls an der Tür erschienen war.
»Was gibt’s denn so Wichtiges?« Im Flüsterton ergänzte er: »Ist Fritsche etwa da drin?«
»Nein, nein. Der hat sich wohl aus dem Staub gemacht.«
»Ja, und warum machst du dann so eine Hektik und bestellst mich hierher?« Sein Tonfall wurde unbeherrschter. »Meinst du denn, ich habe nichts anderes zu tun, oder wie?«
»Doch, doch, Wolf, sicher. Ich dachte nur …« Krummenacker stockte, überlegte einen Augenblick und formulierte dabei seinen Satz um: »Dir ist es doch immer am liebsten, wenn du dir eine Wohnung in aller Ruhe anschauen kannst. Ich meine: Bevor die Spusi alles auf den Kopf stellt.«
»Hast ja recht. Gut gemacht«, lobte der Leiter des K 1. »Dann lasst mich jetzt bitte ein paar Minuten allein.«
Die beiden Streifenpolizisten nickten und verließen die Wohnung.
Manche seiner Kollegen hegten wenig Verständnis für seine Marotte. Darüber ging er jedoch selbstbewusst hinweg. Für ihn spielte das Inspizieren der Wohnung eine eminent wichtige Rolle bei der Beurteilung der Persönlichkeit eines Verdächtigen. Das intensive Eintauchen in die Lebenswelt eines ihm völlig unbekannten Menschen verschaffte ihm wertvolle Informationen über die betreffende Person, wovon diese natürlich nichts wissen konnte.
Schon oft hatte er während eines Verhörs sein Gegenüber mit Details aus dessen Leben derart aus dem Konzept gebracht, dass dieser Mensch plötzlich das Gefühl bekam, ihm nichts mehr verheimlichen zu können – weil er offensichtlich weitaus mehr über ihn wusste, als dieser vermutete.
Die Sache funktionierte allerdings nur, wenn er sich ganz alleine in einer Wohnung oder einem Haus aufhalten konnte und die Spurensicherung noch nicht mit ihrer Arbeit begonnen hatte. Diese kriminalistische Expedition in unbekanntes Terrain folgte stets dem selben Ablaufschema: Tannenberg schloss die Eingangstür und verweilte ein paar Sekunden lang im Flur. Zuerst versuchte er das typische Flair der jeweiligen Wohnung in sich aufzunehmen. Dazu zählten neben den Geräuschen und den Lichtverhältnissen auch der ureigene Geruch, der zu jeder menschlichen Behausung gehörte. Danach betrat er nacheinander alle Räume, öffnete Schränke, stöberte in Regalen und Schubladen, setzte sich auf Stühle und Sessel. Manchmal schaltete er auch den Fernseher ein oder benutzte die Toilette.
In Fritsches Wohnung herrschte ein ziemliches Chaos. Hier lebte offenkundig ein Mensch, der mit seinem Leben nicht mehr zurechtkam. Im Flur lagerten Mülltüten und ungeputzte Schuhe wild durcheinander. In der Küche stapelte sich ungewaschenes Geschirr und Fastfood-Verpackungen. In Schlafzimmer und Bad türmten sich Kleider- und Wäscheberge. Die einzigen Orte, die von einem ordnungsliebenden vorherigen Leben des ehemaligen Bankangestellten Alexander Fritsche zeugten, waren die Wände der Drei-Zimmer-Wohnung.
Tannenberg konnte seine Augen einfach nicht davon losreißen. Wie von starken Magneten angezogen haftete sein Blick auf den mit Raufaser tapezierten Wänden und glitt von einem der Bilder zum anderen. Aber es waren keine Aquarelle, Grafiken oder Kunstdrucke, wie er sie sonst in den von ihm besuchten Wohnräumen vorfand. Nein, es handelte sich ausschließlich um Fotografien – und alle hatten nur ein einziges Motiv: Johanna von Hoheneck.
Die akkurat angeordneten Bilder zeigten die attraktive Historikerin beim Einkaufen, beim Autofahren, beim Spazierengehen oder beim Eisessen in einem Straßencafé. Farbfotos in Postergröße hingen neben kleinformatigen Porträtaufnahmen. Alexander Fritsche schien geradezu besessen zu sein von dieser Frau. In jedem Zimmer der Wohnung war Johanna präsent, sogar auf dem Badezimmerschränkchen stand ein gerahmtes Foto von ihr, auf das ein dickes rotes Herz aufgemalt war. In einer Schublade entdeckte Tannenberg einen Stapel Fotos. Er suchte sich zwei besonders gelungene Aufnahmen aus und ließ sie in seiner Sommerjacke verschwinden.
Dann setzte er sich an den Schreibtisch des Stalkers und fuhr den PC hoch. Im ersten Augenblick erschrak er, denn Fritsche hatte Johanna als Hintergrundmotiv gewählt. Man konnte Wolfram Tannenberg sicherlich nicht als
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