Jan Fabel 01 - Blutadler
Holzplanken, der über einen steil abfallenden Garten hinausragte.
Die Aussicht, die sich Fabel vom Balkon aus bot, machte ihm klar, dass der Wert des Hauses enorm sein musste. Er bemerkte, dass sogar Werner, dessen Sinn für Ästhetik gewöhnlich einiges zu wünschen übrig ließ, das Panorama mit beeindrucktem Schweigen in sich aufnahm. Das Haus der Kesslers lag an einem der Hänge, die sich über dem Blankeneser Strandweg erheben. Fabel und Werner genossen einen ungehinderten Blick über die Elbe hinweg: von den breiten Sandbänken an den Eibufern über die bewaldete Sichel der Insel Nesssand, des Naturschutzgebiets, das die Elbe in zwei Kanäle teilt, weiter zum Alten Land südlich des Flusses. Die Elbe war mit den weißen Dreiecken eines Dutzends Segelboote gesprenkelt. Nur ein unbeholfenes, langes Containerschiff erinnerte daran, dass der Fluss hauptsächlich dem Handel, nicht dem Vergnügen dient.
In der vergangenen Woche hatte Fabel viele recht eindrucksvolle Immobilien gesehen: Yilmaz' Villa, MacSwains modische Dachwohnung und Angelika Blüms Jugendstil-Apartment, aber keine hatte seine Begehrlichkeit erregt. Dieses Haus jedoch - mit seinem unprätentiösen, gleichwohl eleganten Stil, seiner Lage und seiner verblüffenden Aussicht, die dem Blick über die Stadt aus seiner eigenen Wohnung nicht nachstand - ließ ihn neidisch werden. Aber wenn er sich vorstellte, hier zu leben, dann mit seiner Exfrau Renate und seiner Tochter Anna. Der Gedanke erzeugte einen bitteren Nachgeschmack, und er empfand eine geheime Missgunst gegenüber den Kesslers. Unwillig wandte er der Aussicht den Rücken zu.
Als Erika Kessler auf den Balkon trat, zeigte sie eine eiskalte, fast vollendete Schönheit, die jedoch durch einen fast männlichen, kräftigen Unterkiefer beeinträchtigt wurde. Ihre hellblauen Augen strahlten Kühle aus, und ihr Kopf war hochmütig angewinkelt. Die Strenge ihrer Miene wurde durch das feine aschblonde Haar gemildert, das ihr Gesicht sanft gelockt umrahmte. Sie trug ein weißes Baumwolloberteil mit rundem Ausschnitt und eine weiße Hose mit breitem Schlag. Sie deutete auf ein paar Hartholzstühle und ließ sich nieder. Werner und Fabel setzten sich auf zwei Stühle ihr gegenüber. Bei ihrer Ankunft hatten sie Herrn Kessler bereits ihre ovalen Dienstmarken gezeigt, doch Erika Kessler bat nun zusätzlich um ihre Ausweise. Sie musterte beide sorgfältig und verglich die Fotos mit den Gesichtern der Beamten.
»Sie wollten mit mir über Angelika sprechen?«, fragte sie schließlich und gab die Ausweise zurück.
»Ja«, sagte Fabel. »Ich weiß, dass Sie sehr erschüttert über Frau Blüms Tod - und dessen Umstände - sind, und ich versichere Sie unseres Mitgefühls. Aber wir müssen so viel wie möglich über Frau Blüm erfahren, um den Mörder aufzuspüren.«
»Ich werde Ihnen mitteilen, was ich weiß. Allerdings war Angelika kein Mensch, der sich« - Erika Kessler suchte einen Moment lang nach dem richtigen Ausdruck - »mit anderen sonderlich intensiv austauschte. Sie schenkte kaum jemandem Vertrauen.«
»Aber Sie waren eng befreundet?«, fragte Werner.
»Wir waren befreundet. Ich habe Angelika an der Universität kennen gelernt, und wir sind gut miteinander ausgekommen. Sie war intelligent, und Männer fanden sie attraktiv, was damals eine wichtige Rolle spielte.«
»Was für einen Charakter hatte sie?«, fragte Fabel.
»Als wir an der Universität waren oder danach?«
»Beides.«
»Also, Angelika war niemals unbekümmert. Sie nahm ihr Studium immer ernst und hatte ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein. Ein- oder zweimal sind wir zusammen in den Urlaub gefahren. Einmal, es war Sommer, haben wir in den Weinbergen in Spanien gearbeitet. Auf der Rückfahrt besuchten wir das Baskenland und kamen auch nach Guernica. Sie wissen schon, der Ort, über dessen Schicksal Picasso das Bild gemalt hat. Dort besichtigten wir ein Denkmal für die von der Legion Condor 1937 getöteten Menschen. Um Franco einen Gefallen zu tun, hatte Hitler befohlen, die Stadt zu bombardieren. Eine alte Frau hörte uns Deutsch sprechen und beschimpfte uns wegen der Dinge, die wir der Stadt angetan hätten. Ich erwiderte, dass ich nicht dafür verantwortlich gemacht werden könne, weil ich ein ganzes Jahrzehnt nach dem Krieg geboren worden sei. Aber Angelika nahm sich die Worte der Frau wirklich zu Herzen. Ich würde sogar sagen, dass dies ein entscheidendes Erlebnis für die Entwicklung ihres politischen Bewusstseins
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