Jan Fabel 01 - Blutadler
Witrenko?«
Der Slawe stieß die Zigarette in Fabels Richtung, sodass ein Wölkchen grauer Asche langsam gen Boden driftete. »Genau.« Er wartete einen Moment lang. »Ich glaube, nun sollte ich Ihnen von Oberst Witrenkos besonderen Fähigkeiten berichten. Den Befehl führen zu können ist eine Gabe. Wer Männer in der Schlacht kommandiert, wird zu ihrem Vater. Du musst sie glauben machen, dass sie dir uneingeschränkt vertrauen können, dass nur du sie in Sicherheit bringen und beschützen kannst. Wenn es dir nicht gelingt und ihr Tod bevorsteht, müssen sie glauben, dass du den einzig richtigen Ort zum Sterben für sie gewählt hast ... dass es Verrat wäre, zu einer anderen Zeit und an einer anderen Stelle zu überleben. Das alles bedeutet, dass der Befehlshaber in erster Linie psychologische, nicht militärische Strategien entwickeln muss.
Wassyl Witrenko ist ein ganz besonderer Mann und ein einzigartiger Befehlshaber. Schon als Kind ließ er einen überaus hohen Intellekt erkennen. Leider wurden ihm auch einige problematische Charakterzüge bescheinigt. Da er aus einer Soldatenfamilie stammte, meinte man, seine Eigenarten könnten im Rahmen einer Militärlaufbahn am besten unter Kontrolle gehalten werden.« Wiederum zog der Ukrainer lange an der Zigarette. »Tatsächlich zeichnete er sich als Soldat aus, und bald wurde man auf seine Führungsqualitäten aufmerksam. Er war in der Lage, Männer zu außergewöhnlichen Dingen zu bewegen, die ihre Fähigkeiten im Grunde überstiegen. Allerdings waren die Behörden beunruhigt darüber, dass die Verehrung für ihn fast kultähnliche Züge annahm. Er verkündete eine Philosophie des ›ewigen Soldaten‹, und seine Untergebenen hielten sich für die Letzten in einer langen Reihe von Kriegern, die auf eine zweitausendjährige Tradition zurückblickte.« Der Ukrainer beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf die Knie. Ein Rauchkringel kräuselte sich um sein fast kindliches Kinn und stieg an seiner Wange hinauf, sodass er die grünen Augen zusammenkniff. »Ihr Mörder hat eine edle Mission, oder? Er sieht sich als Wikinger, der seinem Volk den wahren nordischen Glauben zurückgibt?«
Fabel merkte, wie sich seine Brust zusammenschnürte. Genau die gleichen Worte hatte Dorn benutzt. »Ja, aber wie ...«
Der Ukrainer schnitt ihm das Wort ab. »Und deshalb suchen Sie nach einem Deutschen oder Skandinavier?«
»Ja, schon ...«
»Sie enttäuschen mich, Herr Fabel. Haben Sie nicht Geschichte studiert?«
Fabel nickte brüsk. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich hätte erwartet, dass Sie umfassender denken, geografisch wie historisch gesehen.«
Es war, als wäre Fabel von einem heftigen Schlag getroffen worden.
»Ach ja ...« Plötzlich tauchten aus den Tiefen seines Gedächtnisses längst vergessene Informationen empor. »Die Kiewer Rus.«
»Ganz richtig, Herr Fabel. Die Kiewer Rus. Die Männer von Kiew und Nowgorod, die Russland ihren Namen gegeben haben. Aber sie waren keine Slawen.«
Fabel verspürte die gleiche Erleuchtung wie vor mehreren Tagen in Dorns Büro. Hier war das fehlende Glied. Die Verbindung zwischen dem ukrainischen Element und dem übrigen Puzzle. »Nein, das waren sie nicht. Sie waren Schweden. Schwedische Wikinger.«
»Stimmt. Sie segelten die Wolga hinauf und errichteten ihre Handelsposten und Städte an strategischen Punkten des Flusses. Krieger. Und durch sie ließ Witrenko sich zu seiner fast religiösen Philosophie des Soldatentums inspirieren. Er vermittelte seinen Untergebenen den Glauben, Erben einer Kriegermentalität zu sein, die bis zu den Wikingern der Kiewer Rus zurückreicht. Er schärfte ihnen ein, dass der Zweck ihres Kampfes unwichtig sei. Nur auf den Kampf selbst, die Waffenbruderschaft und die Prüfung des individuellen und kollektiven Mutes komme es an. Es sei gleichgültig, ob sie sowjetische Soldaten, Söldner oder sogar für den Westen kämpfende Militärs seien. Nur der Akt des Krieges selbst sei die unauslöschliche Wahrheit. Diese Philosophie kleidete er dann in die halb mythischen Prinzipien der Wikinger. Das Ergebnis war, dass seine Männer ihm totale Hingabe entgegenbrachten. Er war - und ist - fähig, Menschen zu den grässlichsten Akten zu überreden. Sogar dazu, ihr eigenes Leben ohne Zögern zu opfern.« Der Ukrainer schaute zu Boden, bevor er geistesabwesend ein wenig Asche wegschnippte. Dann richtete er einen Blick von unvergleichlicher Kompromisslosigkeit auf Fabel. »Meine Worte reichen
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