Jan Fabel 01 - Blutadler
wahrscheinlich nicht aus, um die ungeheure Macht zu beschreiben, die Witrenko auf andere ausüben kann, oder um das Grauen der Taten wiederzugeben, zu denen er fähig ist.« Er schien die letzten Energiereserven in seinen kräftigen Schultern erschöpft zu haben.
»Ich verstehe, wieso Sie Witrenko verdächtigen, die Morde begangen zu haben«, meinte Fabel. »Aber Sie haben gesagt, Sie seien sich sicher, dass er der Mörder ist. Woher wissen Sie das?«
Der Ukrainer stand auf und trat an eines der breiten Fenster. Obwohl er in die dunkle Leere des Lagerhauses hinausschaute, schien er etwas anderes zu sehen. Einen anderen Ort und eine andere Zeit.
»Witrenkos Verband war auf dem Rebellengelände isoliert. Und ohne Luftunterstützung. Es war alles andere als ein konventioneller Krieg. Um ihr eigenes Territorium zu erreichen, mussten die Männer ein Tal durchqueren, das von den Rebellen kontrolliert wurde. Sie brauchten zehn Tage von einem Ende zum anderen, indem sie sich nachts in aller Schnelle von einer Position zur nächsten vorarbeiteten. In jeder Nacht starben Männer oder wurden, schlimmer noch, verwundet zurückgelassen und den Rebellen ausgeliefert. Und an jedem Tag hörten die Überlebenden, die ihre Verschanzung nicht verlassen konnten, die Schreie ihrer gefangenen Kameraden, die von den Mudschaheddin gefoltert wurden. Das hätte den Mut des tapfersten und loyalsten Soldaten brechen können. Aber in dem Tal geschah etwas zwischen Witrenko und seinen Männern. Etwas Unzerbrechliches wurde zwischen ihnen geschmiedet.«
Er wandte sich vom Fenster ab, hob eine neue Zigarette an die Lippen und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. »Von mehr als hundert Soldaten schafften es nur rund zwanzig, zum Ende des Tales vorzudringen. Davon waren mehrere verwundet und konnten sich kaum noch aufrecht halten. Diese Männer wurden in Sicherheit gebracht. Aber statt ebenfalls auf sowjetisches Gebiet zurückzukehren, entfernten sich Witrenko und seine letzten Kämpfer nur wenige Kilometer von dem Tal, bevor sie im Schutz der Dunkelheit umkehrten. Damit hatten die Mudschaheddin natürlich nicht gerechnet. Witrenko und seine Männer übernahmen die Methode der Rebellen, versteckten sich in den Bergen und machten Jagd auf kleine Gruppen von Feinden. Nach jedem Zusammenstoß töteten sie alle Gefangenen bis auf einen. Dieser wurde gnadenlos gefoltert, bis er seine Kenntnisse preisgab, und dann gekreuzigt, sodass er bis zu seinem Tod stundenlang schrie. Zuerst versuchten die Rebellen, die Opfer zu retten, aber Witrenko hatte Scharfschützen postiert, die die Angreifer abwehrten. Die Verluste zwangen die Mudschaheddin, sich mit den Schreien abzufinden. Witrenko und seine Männer wurden zu Banditen oder Geächteten, die sich der militärischen Führung entzogen hatten. Gleichzeitig aber wurden sie zu Helden für die gemeinen Sowjetsoldaten in Afghanistan. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die GRU oder Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije, unsere militärische Aufklärung, ärgerlich wurde. Sie wusste, dass Witrenko und seine Männer wichtige Informationen sammelten, jedoch nicht weiterleiteten. Dann wurden die Geschichten grausiger. Man hörte von Massenmorden in den Rebellengebieten, von Raub und Vergewaltigung.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas in der damaligen Sowjetunion viel Aufsehen erregte«, sagte Fabel.
Der Ukrainer musterte Fabels Miene, um nach Spuren von Sarkasmus zu suchen. Er fand keine. »Sie haben Recht. Aber mittlerweile litten wir unter dem Vietnam-Syndrom. Wir führten einen ungleichen Kampf, in dem unsere überlegene Zahl, unsere Mittel und unsere Technologie einen leichten Sieg hätten garantieren müssen. Aber wir wurden eindeutig geschlagen und suchten verzweifelt nach einem Ausweg, um uns ohne Gesichtsverlust zurückziehen zu können.
Das bedeutete, dass die Sowjetbehörden 1987/88 etwas sensibler auf die Weltmeinung reagierten. Und Witrenkos Aktionen wurden immer« - er rang nach einem Wort - »unerfreulicher. Deshalb schickte die GRU mich mit zwei Speznaz-Abteilungen aus, um Witrenko und seine Männer aufzuspüren und wieder unter militärische Kontrolle zu bringen.«
»Und ist es Ihnen gelungen?«
Der Ukrainer lehnte sich an die Wand und gab dem blonden Mädchen ein Zeichen. Sie händigte ihm einen hellbraunen Umschlag aus.
»Ja. Nach einiger Zeit. Witrenko und seine Männer wurden wegen überragenden Mutes hinter den feindlichen Linien ausgezeichnet.«
Er warf Fabel den Umschlag zu,
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