Jan Fabel 01 - Blutadler
den Handballen noch entschiedener an die Brust.
Maria Klee, die das Mikro immer noch auf halber Höhe zum Mund erhoben hatte, ließ Paul Lindemann wissen: »Der WSP-Bootsführer sagt, wir könnten die Sache, wenn wir wollen, jetzt beenden, ohne MacSwain auf unsere Überwachung aufmerksam zu machen.«
Pauls Augen erhellten sich. »Wie denn?«
»MacSwain macht eine kleine ›Hamburg bei Nacht‹-Tour. Laut dem WSP-Bootsführer hat er seine Navigationslichter ausgeschaltet. Das ist illegal. Da er sich in der Nähe eines Schifffahrtswegs befindet, stellt er eine Gefahr dar. Zum Glück hat unser Bootsführer seine Lichter ebenfalls verdunkelt. Er kann sich MacSwain nähern, bevor der etwas merkt, ihn zu seiner Anlegestelle eskortieren und ihm eine Geldstrafe verpassen. Das würde MacSwain den Abend verderben, und Anna würde wieder sicheren Boden erreichen.«
»Was meinst du?«
»Anna hat uns nicht mitgeteilt, dass sie Schluss machen will. Und wir haben bisher keine nützliche Information erhalten. Ich finde, wir sollten weitermachen. Aber sobald er seine Navigationslichter wieder angeschaltet hat, haben wir kaum noch einen Vorwand zum Eingreifen. Es ist deine Entscheidung, Paul.«
Speicherstadt, Hamburg,
Freitag, den 20. Juni, 21.40 Uhr
Die filterlose Zigarette brannte nun gefährlich nahe an den Lippen des Ukrainers, und er kniff sie zusammen, um einen letzten Zug zu machen. Dann ergriff er den winzigen Stummel mit Zeigefinger und Daumen, ließ ihn auf den Boden fallen und zermalmte ihn mit seinem Absatz.
Fabel holte ein Dutzend Fotos aus dem hellbraunen Umschlag hervor. Die ersten Bilder lösten ein Hämmern in seiner Brust aus. Drei Farbfotos zeigten dieselbe Frau aus verschiedenen Blickwinkeln. Ihr Bauch war aufgeschlitzt, und jemand hatte ihr die Lungenflügel aus dem Körper gerissen. Magensäure stieg in Fabels Kehle auf. Noch mehr Gräuel. Er bemerkte, wie die goldhaarige Frau den Kopf wandte und durch das kleine Fenster in die leere Riesenhöhle des Lagerhauses schaute, als wolle sie unbedingt verhindern, dass ihr Blick auf die Bilder fiel.
Der Ukrainer winkte ab. »Zu dem Fall komme ich demnächst.« Er deutete an, dass Fabel sich der nächsten Serie widmen solle. Die Frau wandte sich vom Fenster ab. Die folgenden Bilder waren ohne zusätzliche Beleuchtung aufgenommen worden. Der Fotograf hatte sich nur auf Blitzlichter verlassen, um einen bleichen Kreis von intensiver Klarheit zu schaffen. Seltsamerweise hatte jeder Schauplatz auf den Amateurfotos eine Unmittelbarkeit und Realitätsnähe, die den klinischen gerichtsmedizinischen Aufnahmen fehlten. Mit jeder neuen Serie des Entsetzens hatte Fabel Bilder anderer Frauen - manche waren noch Mädchen - vor sich, die auf die gleiche Art zerrissen worden waren. Aber auf jedem Foto konnte er am dunklen Rand der Blitzlichter weitere Opfer erkennen. Er warf einen Blick auf das letzte Bild.
»O mein Gott.« Fabel schaute das Foto verständnislos an, als ob er seine Grässlichkeit nicht erfassen könnte. Ein Mädchen, nicht älter als sechzehn oder siebzehn Jahre, war an eine Holzwand genagelt worden. Man hatte grobe Eisenbolzen in ihre Hände und die Knochen ihrer Oberarme getrieben. Sie war genau wie die anderen nach dem »Blutadler« -Verfahren aufgeschlitzt worden, abgesehen davon, dass man die dunkle und blutige Masse ihrer Lunge ebenfalls an die Wand genagelt hatte. Trotz des ihn quälenden Ekels gelang es Fabel in einem analytischen Teil seines Hirns, die Ähnlichkeit zwischen dem Foto in seiner Hand und den Gemälden auf Marlies Menzels Ausstellung zu registrieren. Ihm fiel das Foto aus der Hand. Nachdem es mit der Abbildung nach oben auf dem Boden gelandet war, konnte er die Abdrücke sehen, wo seine Daumen es gehalten hatten. Nahezu flehend blickte er den Ukrainer an, als suche er nach einer Erklärung, die das Gesehene erträglicher machen sollte.
»Es war das letzte Dorf, auf das wir stießen, bevor wir Witrenko einholten. Es lag weit innerhalb des Rebellengeländes, und es war verdammt schwierig gewesen, so weit vorzudringen. Wir wussten nicht, ob Witrenkos Verband es besetzt hatte oder ob es in der Hand der Rebellen war. Wie sich später herausstellte, war es bloß ein normales, nicht in die Kämpfe verwickeltes Dorf. Aber wir mussten sichergehen. Deshalb verbrachten wir einen halben Tag in der gnadenlosen Sonne. Der Wind fegte immer wieder Staub und Sand über uns hinweg. Dann, kurz nach Mittag, änderte der Wind die Richtung und
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