Jan Fabel 01 - Blutadler
Militärakademien geschickt, wo man seine natürlichen Fähigkeiten - und seinen Wahnsinn - förderte.« Er nahm die Papiere vom Tisch. Sie formten in seiner Faust einen Kegel, den er mit ausgestrecktem Arm von sich weg hielt, als stünden die Blätter in Flammen. Eine brennende Fackel, die er seinen Kollegen zu übergeben schien. »Wassyl Witrenko ist das gefährlichste Individuum, mit dem ihr es je zu tun hattet. Er ist bereit, jeden zu töten, von dem er sich bedroht fühlt. Das schließt euch ein. Und mich.«
Fabel wusste nicht, was er noch hinzufügen sollte. Sein Geist wurde von den Bildern der Opfer überwältigt, von Stepan Witrenkos Augen, als er Fabel an der Kehle gepackt hatte - es waren die gleichen kalten, smaragdgrünen Augen wie die seines Sohnes. Ein Schauder durchfuhr Fabel, als er sich vorstellte, wie Ursula Kastner, Tina Kramer und Angelika Blüm in den letzten Sekunden ihres Lebens in jene steinharten, funkelnden Augen geschaut hatten.
Die übrigen Teammitglieder mussten ähnlich finstere Gedanken gehegt haben, denn die Stille blieb ein paar Sekunden lang ungebrochen, bis Maria Klee fragte: »Was ist mit Witrenkos Vater? Hast du ihn festgenommen?« Fabel schüttelte den Kopf. »Aber er hat einen Polizeibeamten angegriffen. Dich. Das können wir nicht dulden.«
»Ich kann es. Er hat mich angegriffen, und ich habe die Fahndung nach ihm abgeblasen. Er ist bereit, mit mir Verbindung aufzunehmen, wenn wir wieder Informationen austauschen müssen. Ich bin überzeugt, dass er seinen Sohn aufhalten möchte.« Während er sprach, hallte der Text der ersten E-Mail in seinem Gedächtnis wider: Sie können mich aufhalten, doch Sie werden mich nie fassen.
»Und was tut Witrenkos Vater bis dahin?« Marias runzelte verdrießlich die Stirn.
»Er tut genau das Gleiche wie wir, das heißt, er versucht, Witrenko zu finden und zu stoppen.«
Werner nahm Marias Faden auf. »Und wenn er unseren Mann als Erster erwischt?«
Fabel dachte daran, wie er dem alten Mann die gleiche Frage gestellt hatte, als sie aus der Bürokabine in das hallende Dunkel des Lagerhauses hinausgetreten waren. Der Ukrainer hatte mit ruhiger, nüchterner Stimme erwidert: »Dann mache ich der Sache ein Ende.«
Der Hauptkommissar richtete die Augen auf Werner und log: »Er hat mir sein Wort gegeben, dass er uns Witrenko und jegliches Beweismaterial ausliefern wird. Deshalb möchte ich nicht, dass wir ihn verhaften. Er muss als wichtiger Kontaktmann behandelt werden. Verstanden?« Fabel stützte die Knöchel auf den Tisch und beugte sich vor. Sein Gesicht war trotz der Müdigkeit hart und straff. »Jetzt müssen wir in Gang kommen. Erstens möchte ich, dass die Eitels zum Verhör vorgeladen werden. Und zwar sofort. Und Werner, sorg dafür, dass die Kollegen von der Abteilung Wirtschaftsdelikte ihre Fragen zusammenstellen. Ein gemeinsames Verhör wäre von Vorteil.« Werner nickte. »Zweitens«, fuhr Fabel fort, »möchte ich, dass sämtliche ukrainischen Informanten in die Mangel genommen werden. Und zwar rücksichtslos. Wir brauchen noch vor Tagesende die Aufenthaltsorte von Witrenkos Haufen. Und damit es klar ist: Mir macht es nicht das Geringste aus, wenn ihr den Kollegen von der Abteilung für Organisierte Kriminalität auf die Zehen tretet. Einiges davon übernehme ich selbst, und ich werde auch unsere BND-Kollegen ausquetschen.«
Fabels Miene verfinsterte sich noch mehr. »Niemand gibt uns die erforderlichen Informationen. Und das hört sofort auf. Oberkommissarin Klee und Oberkommissar Meyer werden euch eure Aufgaben zuweisen. Werner, einen Moment noch, ich möchte gleich mit dir reden.«
»Sicher, Chef.«
Es dauerte ein paar Minuten, bis sich das Zimmer geleert hatte. Werner blieb sitzen, und Anna Wolff schritt um den Konferenztisch herum und pflanzte sich vor Fabel auf. In ihren geschminkten Augen glomm so etwas wie Protest. »Was soll ich ihm also sagen, wenn er mich anruft?«
»Wem?«
»MacSwain. Ich habe ihm die zugeteilte Handynummer gegeben.«
»Lösch die Nummer. Ich möchte nicht, dass du noch einmal engen Kontakt mit ihm hast. Ich kann van Heiden gegenüber keine weiteren teuren Undercover-Operationen rechtfertigen. Wir müssen ihn genau überprüfen, aber das hat keinen Vorrang.«
»Ich glaube, dass er der Täter ist, Chef.«
Fabel runzelte die Stirn. »Wieso, Anna? Du hast doch gesehen, was über Witrenko vorliegt.«
»MacSwain ist wie ein Raubtier. Das sieht man daran, wie er einen beobachtet und wie er
Weitere Kostenlose Bücher