Jan Fabel 01 - Blutadler
auf diesen Gedanken gekommen? Noch ein warnender Blick.
»Ja, Herr Kriminaldirektor«, erwiderte Fabel. »Wir haben alle Sexualverbrecher vernommen, die dem Profil mehr oder weniger entsprechen. Ohne Ergebnis. Allerdings gab es im letzten Jahr in Harburg und Altona eine Reihe von Überfällen auf Frauen, die ungeklärt sind. Wir befragen die Opfer noch einmal - um sicherzugehen.«
»In Ordnung, Herr Fabel«, sagte van Heiden, »halten Sie mich auf dem Laufenden. Zunächst haben wir einen Termin.« Er schaute auf seine Uhr. »Sehen wir uns in zehn Minuten oben?«
»Jawohl.«
Fabel ging zu der Wand mit den Polizeifotos der Opfer hinüber. Das Blitzlicht hatte die Bilder unnatürlich grell werden lassen. Abscheuliche Farben explodierten auf den Hochglanzabzügen. Sie wirkten irreal, goyaesk, aber sie waren real.
Vier lange Monate zuvor hatten Werner und Fabel in der kalten Lüneburger Heide gestanden. Sie hatten sich den Kragen hochgeschlagen, um sich vor einem scharfen Wind zu schützen, der ungehindert aus Sibirien über die baltische Ebene gefegt war. Es hätte eine Mondlandschaft sein können. Die Nacht wurde vom Gleißen tragbarer Bogenlampen erhellt, und die kühle Luft knisterte unter dem zischenden Geplapper von Polizeifunkgeräten. Sie musterten den verstümmelten Körper des ersten Opfers, Ursula Kastner, einer neunundzwanzigjährigen Anwältin, die nach dem Verlassen ihres Büros geradewegs in die Hölle geraten war. Mit einem klaffenden schwarzen Loch in der Brust lag sie vor den Polizisten auf der Heide.
Am folgenden Tag war die erste E-Mail für Fabel eingetroffen.
Er merkte, dass Maria Klee neben ihm stand. »Warum tun sie es?«
Fabel sprach im selben Maße mit sich selbst wie mit seiner Kollegin. Sein Blick schweifte über die Bilder.
»Warum tun sie was?«
»Warum fügen sie sich? Das erste Opfer scheint sich mit dem Mörder verabredet zu haben. Ihr Auto wurde abgeschlossen auf dem Parkplatz einer Autobahnraststätte gefunden, und nichts deutete auf einen Kampf oder eine gewalttätige Entführung hin. Und dieses zweite Opfer ... Es ist, als hätte sie ihren Mörder eingeladen. Oder als hätte er einen Schlüssel gehabt. Es gibt kein Zeichen eines Einbruchs oder eines Gerangels auf oder vor der Schwelle. Vielleicht ist es verständlich, dass sich eine Prostituierte, na ja, gastfreundlich verhält. Aber Ursula Kastner war eine intelligente und auf ihre Sicherheit bedachte junge Frau. Warum haben sich beide einem völlig Fremden gefügt?«
»Falls er ein Fremder war«, erwiderte Maria.
»Wenn er dem typischen Serienmörderprofil entspricht, dann sucht er sich, wie Sie wissen, keine Opfer aus, die ihn kennen.« Susanne Eckhardt war nun neben Fabel und Maria getreten.
»Warum also ist Ursula Kastner mit ihm gegangen, und warum hat ›Monique‹ ihn in die Wohnung gelassen?«, wiederholte Fabel. Maria zuckte die Achseln.
»Vielleicht hat er etwas Vertrauen erweckendes an sich.« Susanne unterbrach sich, als müsse sie über ihre Worte nachdenken. »Erinnern Sie sich an den Fall Albert De Salvo?« Maria und Fabel wechselten einen verständnislosen Blick. »Albert De Salvo. Der Würger von Boston. Er brachte Anfang der Sechzigerjahre ein Dutzend Frauen in der Stadt um.«
»Was ist mit ihm?«
»Die Polizei von Boston stellte genau die gleiche Frage wie Sie: ›Warum haben die Opfer ihn in ihre Wohnung gelassen?‹«
»Warum denn?«
»Salvo war Klempner von Beruf. Er klingelte an der Tür und behauptete, der Hausverwalter habe ihn geschickt. Wenn das Opfer argwöhnisch reagierte, erhob De Salvo keine Einwände, sondern ging einfach weg, als wäre ihm die Sache gleichgültig. Da die Opfer keine Schwierigkeiten mit ihren Hausbesitzern haben wollten und De Salvo offensichtlich das richtige Werkzeug bei sich hatte und nicht hartnäckig war, riefen sie ihn zurück und öffneten die Tür.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Maria. »Dass wir nach einem Klempner Ausschau halten sollen?«
Susanne seufzte ungeduldig. »Nein, nicht unbedingt. Aber es ist möglich, dass er sich auf ähnliche Art tarnt. Als jemand, der Vertrauen erweckt, obwohl er dem Opfer unbekannt ist.«
Maria pochte sich mit dem Kugelschreiber an die Zähne. »Wir wissen, dass dieser Mann, wie er selbst zugibt, gesichtslos wirkt. Vielleicht macht es ihm Spaß, sich als Amtsperson zu verkleiden, bevor er mordet.«
»Also das, Herr Fabel«, sagte Susanne Eckhardt mit einem breiten Lächeln, das ihre Zähne zeigte, »ist eine viel
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