Jan Fabel 01 - Blutadler
Journalistin, Angelika Blüm, hat wieder versucht, dich zu erreichen.«
»In Ordnung, ich bin gleich da.« Fabel ließ sein Handy zuschnappen und schob es in die Tasche. Als er den Motor anließ und in den Seitenspiegel schaute, fiel sein Blick auf eine hübsche junge Frau. Sie stieg in einen Wagen weiter unten auf der Straße. Ihr dichtes, kurzes Haar war von schimmerndem Blond, und sie strahlte Geschmeidigkeit und Jugendfrische aus. Sie kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht genau erinnern, wo er sie schon einmal gesehen hatte.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang herzlich und tief, und hinter dem Hochdeutsch verbarg sich eine Spur des friesischen Platt, mit dem Fabel aufgewachsen war. Schon nach wenigen Worten merkte er, dass die gemütlichen Provinztöne von einem scharfen Intellekt begleitet wurden.
»Sie glauben also, es könnte eine Verbindung zwischen diesen Vergewaltigungen und den Morden geben, die ich untersuche. Worauf stützen Sie Ihre Vermutung, Herr Hauptkommissar Sülberg?«, fragte Fabel.
»Ich könnte sagen, dass es nur eine Ahnung ist. Aber es ist eine begründete Ahnung. Ich habe hier zwei junge Frauen im Stadtkrankenhaus. Die eine wird behandelt, die andere liegt in der Leichenhalle.«
»Ermordet?«
»Nein ... oder wenigstens nicht direkt. Aber ich betrachte es als vorsätzliche Tötung. Sowohl der Toten als auch der Frau auf der Krankenstation ist ohne ihr Wissen ein starkes Halluzinogen verabreicht worden.«
»Eine Vergewaltigungsdroge?«
»Darauf deuten die Tests hin. Beide Frauen wurden an Handgelenken und Knöcheln gefesselt und bei irgendeinem Ritual missbraucht. Ich habe die Einzelheiten Ihrer beiden Morde in den Berichten des Bundeskriminalamts gelesen und Parallelen entdeckt. Das zweite Opfer hat gestern Abend eine Cousine in Hamburg besucht. In einem Nachtclub in St. Pauli ist sie einem Mann begegnet, der sie, wie sie glaubt, mit Hilfe einer präparierten Mineralwasserflasche betäubt hat. Der Tatort liegt also in Ihrem Zuständigkeitsbereich.«
Fabel lächelte. Dieser Provinzpolizist verstand sich auf sein Geschäft. »Warum meinen Sie, dass hier ein rituelles Element mitspielt?«
»Wie Sie wissen werden, verursachen diese Drogen einen starken Gedächtnisschwund, aber zwischen den Lücken erinnert sich das Opfer vage daran, an eine Art Altar gefesselt gewesen zu sein. Vielleicht gab es da auch irgendeine Statue.«
»Ich danke Ihnen für den Anruf, Herr Sülberg. Der Sache muss selbstverständlich nachgegangen werden. Ich komme vorbei. Ich arbeite zusammen mit einer Kriminalpsychologin an diesem Fall, mit Frau Dr. Eckhardt. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich sie mitbringe?«
Sülberg hatte keine Einwände, und sie verabredeten sich für den folgenden Tag.
Hamburg-Harvestehude,
Freitag, den 13. Juni, 19.30 Uhr
Fabel kannte die kritischen Momente bei der Vernehmung von Verdächtigen oder Zeugen: Sekundenbruchteile, in denen die Reaktionen unverfälscht und natürlich sind, in denen nicht einmal die am gründlichsten eingeübte Tarngeschichte Zeit hat, ihre Wirkung zu entfalten. Einer dieser Momente tritt ein, wenn die Polizei unangemeldet an der Tür auftaucht. Ein offizieller Kontakt mit der Polizei ist die Ausnahme im Leben des Durchschnittsbürgers, und wenn ein Beamter plötzlich an der Tür erscheint, reagiert ein solcher Bürger auf mehrere feststehende Arten. Die häufigsten sind ängstliche Unruhe und Abwehr, denn der Besuch der Polizei dient, wie man annimmt, der Übermittlung schlechter Nachrichten, normalerweise über den Tod eines Verwandten, ein Verbrechen oder einen Unfall.
Mithin verhielt sich John MacSwain völlig unlogisch. Als Fabel und Werner ihm ihre ovalen Dienstmarken hinhielten, lächelte er ungerührt, trat zur Seite und lud sie in seine Wohnung ein.
Zum zweiten Mal am selben Tag stand Fabel in einer für ihn unerschwinglichen Behausung. Die großräumige Wohnung war mit makellosem Geschmack ausgestattet und möbliert. MacSwain, ein hoch gewachsener, dunkelhaariger Mann von Ende zwanzig trug saloppe, doch teure Kleidung und hätte mit seinem muskulösen Äußeren Filmschauspieler sein können. Das Auffälligste an ihm waren seine Augen. Ihr helles Smaragdgrün erinnerte Fabel an den Slawen, den er in jener Mordnacht vor dem Ort des Geschehens bemerkt hatte. Doch die Gesichtszüge der beiden hatten nichts miteinander gemein.
MacSwain führte sie in einen riesigen Raum mit einem glänzend polierten Buchenholzparkett. Nach
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