Jan Fabel 01 - Blutadler
umliegende Ebene fegte. Aus dieser Baumgruppe war die junge Frau vor den Lastwagen getaumelt und getötet worden. Fabels Blick glitt über den Parkplatz. Sein BMW war das einzige hier abgestellte Auto, und nachts musste die Stelle noch einsamer sein. Die andere Frau war an derselben Straße zurückgelassen worden, doch etwa zwanzig Kilometer weiter in Richtung Hamburg.
Das siebenstöckige Gebäude des Stadtkrankenhauses Cuxhaven liegt in einem grünen Quadrat aus Gras und Bäumen an der Altenwalder Chaussee. Fabel und Susanne wurden in ein helles Wartezimmer mit großen Fenstern geführt, die auf makellose Blumenbeete und eine kleine Rasenfläche hinausblickten. Nach ungefähr zehn Minuten öffnete sich die Tür, und ein gedrungener, zerknittert wirkender Schutzpolizist kam herein. Ein breites, aufrichtiges Lächeln lag auf seinem Gesicht.
»Hauptkommissar Fabel? Frau Dr. Eckhardt? Ich bin Hauptkommissar Sülberg.« Er schüttelte beiden Besuchern die Hand und entschuldigte sich, dass Dr. Stern noch zwanzig Minuten beschäftigt sein werde. Deshalb schlug er vor, sofort mit der jungen Frau zu sprechen.
Michaela Palmer war groß und langgliedrig. Fabel wusste aus Sülbergs Bericht, dass sie dreiundzwanzig Jahre alt war. Ihr butterblondes Haar schien ungefärbt zu sein. Sie wäre schön gewesen, hätte eine etwas zu lange Nase nicht die Ausgewogenheit ihrer Züge gestört. Ihre Haut war golden gebräunt, schwerlich durch die norddeutsche Sonne und auch nicht durch häufige Reisen in südlichere Gegenden. Ihr übertrieben gesundes Aussehen war eher einem Sonnenstudio zu verdanken und bildete einen Kontrast zu dem weißen Gazeverband um ihre Stirn. Nur unter ihren blauen Augen konnte die unnatürliche Bräunung die dunklen Schatten, die die vergangenen achtundvierzig Stunden hinterlassen hatten, nicht verbergen. Ihr Zimmer befand sich im dritten Stock des Stadtkrankenhauses Cuxhaven, und Fabel dachte unwillkürlich, wie viel Glück sie gehabt hatte, dass sie nicht im Kellergeschoss gelandet war - in der Leichenhalle.
Fabel deutete auf das Bett und setzte eine Erlaubnis heischende Miene auf. Michaela Palmer nickte und rückte ein wenig zur Seite. Ihr weißer Frotteebademantel verrutschte, sodass eine bronzene Fläche ihres Schenkels entblößt wurde. Rasch bedeckte sie sich wieder. Ihre Bewegungen und vor allem die Art, wie sie die Augen hin und her huschen ließ, erinnerten an einen gejagten Fuchs kurz vor der Flucht. Fabel lächelte so beruhigend, wie es ihm möglich war.
»Ich bin Kriminalhauptkommissar bei der Polizei Hamburg.« Fabel erwähnte bewusst nicht, dass er der Mordkommission angehörte, um Michaela nicht noch zusätzlich zu erschrecken. Wenn er bei der Befragung nicht behutsam vorging, würde seine Zeugin vermutlich zusammenbrechen. »Und das ist Frau Dr. Eckhardt. Sie ist Psychologin und weiß eine Menge über den Drogentyp, den man Ihnen verabreicht hat. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Sind Sie damit einverstanden?«
Michaela Palmer nickte. »Was möchten Sie wissen? Ich kann mich an kaum etwas erinnern. Das ist es eben ...« Sie runzelte die Stirn.
»Ich kann mich an fast nichts entsinnen. Und damit meine ich nicht nur die Entführung - auch von den Tagen vorher fehlt mir einiges.«
Sie betrachtete Fabel forschend, und ihre Unterlippe zitterte. »Wie kommt das? Schließlich war das, bevor ich betäubt wurde. Warum kann ich mich an frühere Dinge nicht erinnern?«
Fabel drehte sich fragend zu Susanne hin.
»Der Drogentyp, der Ihnen gegeben wurde, beschädigt das Gedächtniszentrum des Gehirns«, erklärte sie. »Sie werden feststellen, dass ein paar Details vor der Betäubung aus Ihrer Erinnerung gelöscht sind. Diese Dinge kehren im Allgemeinen zurück, jedenfalls teilweise. Aber das, was Sie aus der Zeit der Betäubung vergessen haben, wird nicht zurückkehren. Was vielleicht keine so schlechte Sache ist.« Susanne rückte näher. »Hören Sie zu, Frau Palmer, ich muss Sie davor warnen, dass Sie leider sehr lebhafte Flashbacks an die Dinge haben werden, die sich Ihnen trotz allem im Zusammenhang mit der Entführung eingeprägt haben.«
Michaela Palmer unterdrückte mühsam ein Schluchzen. »Ich will mich an nichts erinnern.« Sie schaute Fabel direkt in die Augen. »Bitte, zwingen Sie mich nicht, mich daran zu erinnern.«
»Dazu kann Sie niemand zwingen, Frau Palmer«, sagte Susanne und strich eine Strähne der blonden Haare zurück, als tröste sie ein Kind, das aus einem
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