Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Oberschicht völlig zerstört wurde, sondern auch das gemeine Volk die Frau, wenn sie auf der Straße erschien, mit Beschimpfungen bedachte. Das war ein eindeutiger Beweis dafür, dass die Vorurteile der Bauern in der so genannten zivilisierten Welt weiterleben und dass die alten Märchen im Wesentlichen wahr sind.
Fabel schloss das Buch und ließ die Hand auf dem Einband ruhen, als könne er wie durch Osmose mehr daraus erfahren. Er dachte über den glänzenden Umschlag, über das kommerzielle Verlagsprodukt hinaus und stellte sich den Moment der Schöpfung vor: wie sich Weiss’ bedrohliche Riesengestalt mit den zu schwarzen, funkelnden Augen in dem Licht aufsaugenden Arbeitszimmer über den Laptop beugte. Er dachte an die Wolf- oder Werwolf-Skulptur, die wahrscheinlich von Weiss’ wahnsinnigem Bruder angefertigt worden war und die unablässig die Zähne fletschte, während Weiss seine Serienmorde zu Papier brachte.
Fabel stand auf, zog sich sein Jaeger-Jackett an und schaltete die Schreibtischlampe aus. Die Lichter Hamburgs glänzten durch sein Bürofenster. Da draußen schliefen anderthalb Millionen Seelen, während andere durch die Nacht schlichen. Bald, das wusste Fabel, bald würde sich der nächste Mord ereignen.
45.
Altes Land, südwestlich von Hamburg, Montag, den 19. April, 11 Uhr
Fabel wartete.
Er begann, eine Art Trunkenheit zu empfinden, wie sie sich bei Schlafmangel einstellt. Es hätte ihm gut getan, wenn er nicht mitten in der Nacht von Norddeich nach Hamburg hätte zurückfahren müssen. Susanne hatte beschlossen, ihre freien Tage zu nutzen und mit Gabi bei seiner Mutter zu bleiben, bevor sie mit dem Zug zurückkehrte.
Der Mörder strapazierte das Team. Es musste sich nun so vielen Morden, Spurensicherungen und Vernehmungen gleichzeitig widmen, dass Fabel die Ermittlungen im Fall Ungerer vollständig Maria übertragen hatte. Die Entscheidung war ihm nicht leicht gefallen. Er schätzte Marias Fähigkeiten höher ein als die der anderen Teammitglieder, vielleicht sogar höher als die von Werner. Sie war eine überaus intelligente Frau, die Methodik und Detailgenauigkeit mit Schnelligkeit verband. Aber er bezweifelte, dass sie solch einer Aufgabe tatsächlich schon wieder gewachsen war. Physisch war sie gesund, und man hatte ihr auch die psychische Genesung bescheinigt. Offiziell. Doch Fabel konnte etwas in Marias Augen erkennen, das er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Er konnte es nicht benennen, aber es beunruhigte ihn.
Leider hatte er im Moment keine andere Wahl, als Maria den Fall Ungerer zu übergeben. Etliche Kompromisse wurden eingegangen: Anna war wieder im Dienst, obwohl sie vor Schmerz zusammenzuckte, wenn etwas ihren verletzten Schenkel berührte; Hermann arbeitete vollamtlich in der Mordkommission, obgleich er keine umfassende Kripo-Ausbildung erhalten hatte; und Fabel hatte zwei Mitglieder der Abteilung Sexualdelikte herangezogen, um sein Team zu ergänzen.
Er wartete immer noch. Zwei Dinge hätte er während seiner Fahrt ins Alte Land voraussagen können: erstens, dass die Klosterstadts nicht zu denen gehörten, die selbst an die Tür gingen; zweitens, dass sie ihn warten lassen würden. Bei seinem letzten Besuch hatte Lauras überraschender Tod ihm eine sofortige Audienz gesichert. Diesmal hatte der mit einem blauen Anzug bekleidete Butler, der die Tür geöffnet hatte, ihn in ein Empfangszimmer geführt, in dem er nun schon seit zwanzig Minuten herumsaß. Eine halbe Stunde war sein Limit. Dann würde er sich selbst auf die Suche nach der Hausherrin machen.
Margarethe von Klosterstadt tauchte aus dem Salon auf, in den Fabel während seines letzten Besuchs gebeten worden war. Sie schloss die Türen hinter sich, was bedeutete, dass das Gespräch im Empfangszimmer stattfinden würde. Fabel stand auf und schüttelte ihr die Hand. Sie lächelte höflich und entschuldigte sich, dass sie ihn hatte warten lassen. Beides, das Lächeln und die Entschuldigung, wirkte unaufrichtig. Frau von Klosterstadt trug ein dunkelblaues Kostüm, das ihre schmale Taille betonte. Die hochhackigen Pumps sorgten dafür, dass sich ihre Wadenmuskeln spannten, und Fabel musste wieder den Gedanken verdrängen, wie verführerisch sie aussah. Sie deutete an, dass er sich wieder hinsetzen solle, und nahm auf dem Sessel neben ihm Platz.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Kriminalhauptkommissar?«
»Frau von Klosterstadt, ich möchte offen mit Ihnen reden. Einige Ergebnisse unserer Ermittlungen lassen uns
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