Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Erregendes.«
In sein Büro zurückgekehrt, holte Fabel den Skizzenblock hervor. Er schlug die Seite um, auf der er die bisherigen Ermittlungsergebnisse zusammengefasst hatte, und begann auf einem neuen Blatt. Es lud ihn geradezu ein, einen neuen Gedankengang zu Papier zu bringen. Diesmal schrieb er am oberen Rand die Namen der Märchen nieder, die der Mörder nachgeahmt hatte, und darunter notierte er Begriffe, die er selbst mit jederErzählung in Verbindung brachte. Wie erwartet, schrieb er desto mehr, je näher er dem jüngsten Mordfall, repräsentiert durch Rotkäppchen, kam. Themen, Namen, Beziehungen: Großmutter, Stiefmutter, Mutter, Hexe, Wolf. Er war noch mitten in seinen Assoziationen, als sein Schreibtischtelefon klingelte. »Hallo, Chef. Maria. Könntest du mich am Institut für Rechtsmedizin treffen? Die Wasserschutzpolizei hat gerade eine Leiche aus der Elbe gezogen. Und Chef, ich würde alle Pläne für das Mittagessen streichen.«
Jeder, der in Hamburg eines unerklärlichen oder gewaltsamen Todes stirbt, endet in der Sektionshalle des Instituts für Rechtsmedizin. Wenn jemand unerwartet dahinscheidet und kein Arzt einen Totenschein ausstellt, wird er hierher gebracht. Eine Leiche, an die man ein Gewicht gebunden und die man dann in die Elbe geworfen hatte, war hier natürlich nicht fehl am Platze. Sobald Fabel die Leichenhalle betrat, verspürte er die übliche Mischung aus Abscheu und Furcht. Wie immer peinigte ihn der Geruch. Nicht nur der Geruch des Todes, sondern auch von Desinfektions- und Fußbodenreinigungsmitteln – ein Ekel erregender Cocktail, der nie übermächtig, doch stets präsent war. Ein Angestellter führte Fabel, Maria und den Kommissar des Patrouillenbootes der Wasserschutzpolizei, das auf die Leiche gestoßen war, in die kühle, von Stahlschränken gesäumte Halle. Fabel bemerkte zu seinem Unbehagen, dass der Wasserschutzpolizist äußerst widerwillig aussah, als der Angestellte stehen blieb und die Hand auf den Griff eines der Kühlfächer legte. Der Hafenpolizist hatte die Leiche natürlich schon gesehen, als sie aus dem Fluss gefischt worden war, und war offensichtlich nicht geneigt, sie noch einmal zu betrachten.
»Der hier stinkt ein bisschen.« Der Sektionsgehilfe wartete einen Moment, um seine Warnung wirken zu lassen. Dann drehte er den Griff, öffnete die Tür und ließ den Metallkasten mit der Leiche herausgleiten. Der Gestank überflutete sie.»Verdammt!« Maria wich einen Schritt zurück, und Fabel merkte, wie sich der Wasserschutzpolizist neben ihm anspannte. Er selbst hatte Mühe, seinen Magen zu beherrschen, der beim Anblick und Geruch der Leiche zu schlingern begann. In dem Kasten lag ein nackter Mann. Er war ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß. Sein Körperbau und sogar seine Rassenzugehörigkeit waren schwer zu erkennen, denn die Leiche war im Wasser aufgedunsen und hatte sich verfärbt. Der größte Teil des angeschwollenen Rumpfes war von kunstvollen Tätowierungen bedeckt, die sich auf der fleckigen Haut gedehnt hatten und blasser geworden waren. Sie bestanden hauptsächlich aus komplizierten Mustern und Strukturen, nicht aus den üblichen nackten Frauen, Herzen, Totenköpfen, Dolchen und Drachen. Eine tiefe Einkerbung zog sich wie eine mächtige Falte um den aufgedunsenen Körper, und die überdehnte Haut war eingerissen. Der Tote hatte lange ergraute Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Fabel konnte die Spuren des geraden, seitlichen Schnittes erkennen, aber an anderen Stellen der Wunde schienen die Haut und das Fleisch zerrissen zu sein. Doch das eigentliche Grauen ging von der Verwüstung des Gesichts aus. Das Fleisch um die Augenhöhlen und den Mund war eingerissen und zackig. Knochen glänzten durch Fetzen aus purpurn verfärbter Haut und rosigem Fleisch. Die Zähne des Opfers waren zu einem lippenlosen Grinsen gefletscht.
»Meine Güte! Was zum Teufel ist mit seinem Gesicht passiert?«, fragte Fabel.
»Aale«, meinte der Kommissar der Wasserschutzpolizei. »Sie fallen immer als Erstes über die Wunden her. Deshalb vermute ich, dass seine Augen ausgestochen worden sind, bevor man ihn ins Wasser warf. Die Aale erledigten den Rest. Sie nahmen den einfachsten Weg in den Kopf hinein, zu einer erstklassigen Proteinquelle. Das Gleiche gilt für die Halswunde.«
Fabel dachte an Günter Grass’ Blechtrommel : Ein Angler fischt mit einem Pferdekopf nach Aalen, und als er ihn aus dem Wasser
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