Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
verspürte Fabel fast so etwas wie Ehrfurcht.
»Sie war eine grauenhafte, schreckliche Frau, Herr Fabel«, setzte Biedermeyer seine Rede fort. »Gott und Deutschland waren die einzigen Dinge, die sie interessierten. Unsere Religion und unsere Nation. Die beiden einzigen Bücher, die wir im Haus hatten, waren die Bibel und die Grimm’schen Märchen. Alles andere war Schmutz. Pornografie. Sie nahm mir auch alle Spielsachen weg. Angeblich, weil ich dadurch faul wurde. Aber ein Geschenk, das mir mein Vater vor seinem Tod gekauft hatte, konnte ich verstecken: eine Maske. Eine Wolfs-Spielzeugmaske. Sie stellte meine geheime Rebellion dar. Dann, als ich ungefähr zehn Jahre alt war, lieh mir ein Freund eines Tages ein Comic-Heft. Ich schmuggelte es ins Haus und versteckte es, aber sie fand es trotzdem. Zum Glück lag es nicht im selben Versteck wie die Wolfsmaske. Aber damit fing es an. Meine Stiefmutter sagte, wenn ich lesen wolle, müsse es etwas Reines und Edles und Wahrhaftiges sein. Sie gab mir einen Band der Grimm’schen Märchen, den sie seit ihrer Kindheit besaß, und befahl mir ›Hänsel und Gretel‹ auswendig zu lernen. Dann musste ich das Märchen aufsagen. Ich stand da, mit meiner Stiefmutter neben mir, und sollte es ohnejeden Fehler wiedergeben.« Er schaute Fabel flehend an, und sein großes Gesicht hatte etwas Kindliches. »Ich war ein kleiner Junge, Herr Fabel. Ein kleiner Junge. Ich machte Fehler. Selbstverständlich, es war solch eine lange Geschichte. Dann schlug sie mich. Mit einem Stock, bis ich blutete. Jede Woche musste ich ein neues Märchen lernen. Und jede Woche wurde ich verprügelt. Manchmal war es so schlimm, dass ich das Bewusstsein verlor. Und sie schlug mich nicht nur, sondern redete auch auf mich ein. Mit lauter Stimme, immer ganz ruhig. Sie sagte, dass ich nichts taugte. Ich sei eine Missgeburt, und ich würde so groß und hässlich werden, weil ich etwas Großes, Böses in mir hätte. Ich lernte zu hassen. Ich hasste sie, aber viel mehr noch hasste ich mich selbst.« Biedermeyers Gesicht war bekümmert. Er hob bittend seinen Wasserbecher, und einer der Beamten füllte ihn wieder. Der Bäckermeister trank einen Schluck, bevor er weitererzählte. »Aber ich lernte etwas aus den Märchen. Ich begann, sie zu verstehen, während ich sie aufsagte. Außerdem fiel mir ein wertvoller Trick ein, durch den ich sie mir leichter einprägen konnte. Ich blickte über die Worte hinaus und versuchte, die Botschaft zu durchschauen. Mir wurde klar, dass die Gestalten keine wirklichen Menschen, sondern Symbole waren. Gute und böse Kräfte. Schneewittchen und Hänsel und Gretel waren genau wie ich: hoffnungslos gefangen von dem Übel, das meine eigene Stiefmutter verkörperte. Dadurch konnte ich mich besser an die Erzählungen erinnern, und ich machte immer weniger Fehler. Nun hatte meine Stiefmutter weniger Vorwände, mich zu schlagen. Aber was sie an Häufigkeit verlor, machte sie durch die Schwere ihrer Bestrafungen wett.
Dann unterlief mir eines Tages ein Fehler. Ich vertauschte ein einziges Wort im Satz. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber sie prügelte auf mich ein, ohne wieder aufzuhören. Die ganze Welt schien zu wanken. Es war wie ein Erdbeben in meinem Kopf, und alles wogte hin und her. Ich glaubte, sterben zumüssen. Und ich war froh darüber. Können Sie sich das vorstellen, Herr Fabel. Elf Jahre alt und froh zu sterben. Ich stürzte zu Boden, und da hörte sie auf, mich zu schlagen. Sie befahl mir aufzustehen, und ich merkte, dass sie Angst hatte, diesmal zu weit gegangen zu sein. Ich wollte ein artiger Junge sein, wirklich, und bemühte mich aufzustehen, aber ich konnte nicht. Es war unmöglich. Ich schmeckte Blut. Es war in meinem Mund und in meiner Nase, und ich spürte es heiß in meinen Ohren. Nun, dachte ich, nun werde ich sterben.« Biedermeyer beugte sich mit vor Eifer und Intensität glühenden Augen nach vorn. »Und dann hörte ich ihn. Es war das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte. Am Anfang war ich verängstigt. Sie können es sich bestimmt ausmalen. Aber seine Stimme war wohltönend und freundlich und sanft. Er sagte mir, er sei Wilhelm Grimm und er habe die Erzählungen zusammen mit seinem Bruder geschrieben. ›Du bist nicht mehr allein‹, versicherte er mir. ›Ich bin hier. Ich bin der Geschichtenerzähler, und ich werde dir helfen.‹ Und das tat er auch, Herr Fabel. Er half mir, die Märchen zu lernen, die ich für meine Mutter aufsagen musste. Danach, nachdem
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