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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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gekommen, und Biedermeyer habe sie persönlich abgeliefert. Dabei sei er Laura von Klosterstadt begegnet. Er habe ihre hochmütige Schönheit und ihr langes blondes Haar bewundert und gewusst, dass eine Prinzessin vor ihm stand. Nicht bloß irgendeine Prinzessin, sondern Dornröschen. Deshalb habe er sie für immer in den Schlaf versetzt und einen Teil ihrer Haare geraubt.
    »Dann habe ich Ungerers Geschichte beendet. Er war ein geiler Dreckskerl. Er hat dauernd nach Hanna und sogar nach Vera Schiller geschielt. Ich bin ihm ein paar Tage lang gefolgt und habe gesehen, wie abscheulich er sich benahm und mit welchen Huren er sich abgab. Ich habe es dann so eingefädelt, dass wir uns auf St. Pauli begegneten. Ich lachte über seine schlüpfrigen Witze und seine verwerflichen Bemerkungen. Er schlug mir vor, noch woanders mit ihm etwas trinken zu gehen. Aber ich wollte nicht in der Öffentlichkeit mit ihm gesehen werden und behauptete, zwei Frauen zu kennen, die wir besuchen könnten. Wenn die Märchen uns etwas mitteilen, dann wohl hauptsächlich, wie leicht es ist, andere vom Pfad abzubringen und in die Dunkelheit des Waldes zu locken. Er hat ein gutes Beispiel dafür geliefert. Ich führte ihn… also, ich führte ihn zu einem Haus, das Sie bald auch selbst sehen werden, und versprach ihm, dass die Frauen dort sein würden. Dann habe ich ein Messer gezogen und es in seinem schwarzen, verdorbenen Herzen umgedreht. Er hatte nicht damit gerechnet, und es war innerhalb von Sekunden vorbei.«
    »Und Sie nahmen seine Augen mit?«
    »Ja. Ich hatte Ungerer die Rolle des Königssohnes in ›Rapunzel‹ gegeben und habe ihm die lüsternen, schamlosen Augen rausgerissen.«
    »Was war mit Max Bartmann, dem Tätowierer?«, fragte Fabel. »Sie haben ihn vor Ungerer ermordet, und er hat keine Rolle in einem Ihrer Märchen gespielt. Schließlich haben Sie versucht, seine Leiche für immer zu versenken. Warum haben Sie ihn getötet? Nur seiner Augen wegen?«
    »In gewisser Weise, ja. Wegen der Dinge, die seine Augen gesehen hatten. Er wusste, wer ich bin. Da ich nun die Freiheit hatte, meine Arbeit durchzuführen, hätte er im Fernsehen oder in der Zeitung irgendwann einen Bericht bemerkt und die Verbindung hergestellt. Deshalb musste ich auch seine Geschichte beenden.«
    »Wovon reden Sie?« Werners Tonfall verriet Ungeduld. »Woher wusste er, wer Sie sind?«
    Biedermeyer bewegte sich so rasch, dass keiner der Beamten im Zimmer rechtzeitig reagierte. Er sprang auf, sein Stuhl flog auf die Wand zu, und die beiden Schutzpolizisten hinter ihm warfen sich zur Seite. Seine mächtigen Hände fuhren an seine muskulöse Brust. Die Knöpfe lösten sich von seinem Hemd, und der Stoff riss, während er sich davon zu befreien suchte. Wuchtig wie ein Koloss stand er im Vernehmungszimmer. Fabel hob eine Hand, und die Schutzpolizisten, die ihn packen wollten, hielten inne. Werner und Fabel waren beide ebenfalls aufgesprungen, und auch Maria hatte mehrere Schritte nach vorn gemacht. Alle drei standen nun im Schatten von Biedermeyers enormer Gestalt und starrten den Körper des riesigen Mannes an.
    »Ach du Scheiße«, sagte Werner leise.
    Biedermeyers Oberkörper war vollständig mit Worten bedeckt. Mit Tausenden von Worten, die seinen Körper schwarz wirken ließen. Märchen waren mit schwarzer Frakturschrift in seine Haut tätowiert worden, und zwar in so kleinen Buchstaben, wie es die menschliche Haut und das Geschick des Tätowierers zuließen. Die Titel waren klar zu erkennen: »Dornröschen«, »Schneewittchen«, »Die Bremer Stadtmusikanten«.
    »Mein Gott.« Fabel konnte die Augen nicht von den Tätowierungen abwenden. Die Worte schienen sich mit jedem Atemzug Biedermeyers zu bewegen, die Sätze wanden sich auf seinem Körper. Fabel erinnerte sich an die Bände in der winzigen Wohnung des Tätowierers: die Bücher über die altdeutsche gotische Schrift, über Fraktur und Sütterlin und Kupferstich.
    Biedermeyer stand einen Moment lang schweigend da. Als er schließlich sprach, hatte seine Stimme den gleichen tiefen, drohenden Klang wie zuvor. »Verstehen Sie mich nun? Begreifen Sie? Ich bin Bruder Grimm. Ich bin der Inbegriff der Erzählungen und Märchen unserer Sprache, unseres Landes, unseres Volkes. Er musste sterben, denn er hatte dies alles gesehen. Max Bartmann hatte geholfen, dies zu schaffen, und es angeschaut. Ich konnte nicht zulassen, dass er jemandem davon erzählt. Deshalb habe ich ihm ein Ende gesetzt und seine Augen genommen,

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