Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
während der Schriftsteller unerschütterlich ruhig blieb. Sein Name war Gerhard Weiss, und sein Roman trug den Titel Die Märchenstraße . Das Werk war in Form eines fiktiven Reisetagebuchs von Jacob Grimm geschrieben worden. Der Moderator erläuterte für die Zuhörer, dass Jacob Grimm seinen Bruder Wilhelm in diesem Bericht begleite, während sie die Geschichten sammelten, die schließlich unter dem Titel Kinder- und Hausmärchen erscheinen sollten. Der Roman wich von den Tatsachen ab, indem Jacob Grimm als Serienmörder beschrieben wurde, der in den Städten und Dörfern, die er zusammen mit seinem Bruder besuchte, etliche Verbrechen an Kindern und Frauen beging. Mit jedem Mord ahmte er eine der gesammelten Erzählungen nach. In dem Roman lautete die Rechtfertigung des wahnsinnigen Grimm, er wolle die Wahrhaftigkeit dieser Geschichten am Leben erhalten. Der fiktive Jacob Grimm gelangte schließlich zu dem Schluss, dass Mythen, Sagen und Märchen den Zweck hätten, der Finsternis der menschlichen Seele Ausdruck zu verleihen.
»Es ist eine Allegorie«, erklärte Gerhard Weiss, »ein literarischer Kunstgriff. Es gibt nicht das geringste Indiz dafür, dass Jacob Grimm pädophil oder gar ein Mörder war. Mein Buch Die Märchenstraße ist eine Erzählung, eine erfundene Geschichte. Ich habe Jacob Grimm gewählt, weil sein Bruder und er deutsche Volksmärchen sammelten und untersuchten sowie die Struktur der deutschen Sprache analysierten. Wenn jemand die Macht von Sagen und Folklore verstehen konnte, dann waren es die Brüder Grimm. Heute fürchten wir uns, unsere Kinder außer Sichtweite spielen zu lassen. Wir wittern in jedem Aspekt des modernen Lebens Gefahren. Wir gehen ins Kino, um uns durch moderne Mythen erschrecken zu lassen, die unserer Meinung nach das heutige Leben und die heutige Gesellschaft widerspiegeln. Tatsache aber ist, dass die Gefahr immer existiert hat. Der Kindesmörder, der Vergewaltiger, derwahnsinnige Täter sind Bestandteile der menschlichen Erfahrung. Neu ist nur, dass wir uns früher durch Erzählungen über den bösen Wolf, über die grausige Hexe oder über das Böse, das im Dunkel der Wälder lauert, in Angst versetzten, während wir uns heute durch Filmmythen über den superintelligenten Serienmörder, den übelwollenden Verfolger, den Außerirdischen oder das von der Wissenschaft geschaffene Monster erschrecken… Wir haben nichts anderes getan, als den bösen Wolf neu zu erfinden, und wir benutzen lediglich moderne Allegorien für sich dauernd wiederholende Gräuel.«
»Und das gibt Ihnen das Recht, den Ruf eines großen Deutschen in den Schmutz zu ziehen?«, fragte der Literaturwissenschaftler. In seiner Stimme mischten sich Zorn und Unglaube.
Wieder blieb der Autor ruhig. Erstaunlich ruhig, dachte Fabel. Fast emotionslos. »Ich sehe ein, dass ich einen großen Teil des deutschen literarischen Establishments und die Nachfahren von Jacob Grimm verärgert habe, aber ich erfülle nur meine Pflicht als Autor heutiger Fabeln. Es ist meine Aufgabe, die Tradition der Einschüchterung des Lesers durch die Verbindung von äußerer Gefahr und innerer Dunkelheit fortzusetzen.«
Der Moderator stellte die nächste Frage: »Aber was die Nachkommen von Jacob Grimm besonders erbost hat, ist der Umstand, dass Sie zwar Ihre Beschreibung Jacob Grimms als Mörder ganz und gar fiktiv nennen, doch gleichzeitig behaupten, Ihr Roman stütze Ihre Theorie der ›Prosa als Wahrheit‹. Was bedeutet das? Ist das Buch nun fiktiv oder nicht?«
»Wie Sie bereits gesagt haben«, antwortete Weiss mit immer noch ausgeglichener, emotionsloser Stimme, »basiert mein Roman nicht auf Tatsachen. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass künftige Generationen, wie in so vielen Beispielen der Literatur, glauben werden, dass das Buch einen Teil Wahrheit enthält. Die Angehörigen einer weniger gebildeten, gleichgültigeren Zukunft werden sich an die Erfindung erinnern undsie als Tatsache akzeptieren. Dieser Prozess vollzieht sich seit Jahrhunderten. Nehmen Sie zum Beispiel Shakespeares Porträt des schottischen Königs Macbeth. In Wirklichkeit war Macbeth ein beliebter, geachteter und erfolgreicher König. Aber weil Shakespeare der damaligen britischen Monarchin gefällig sein wollte, verteufelte er Macbeth in seinem literarischen Werk. Heutzutage ist Macbeth eine monumentale Gestalt. Ein Symbol für brutalen Ehrgeiz, Habgier, Gewalt und Blutrünstigkeit. Das jedoch sind die Merkmale der shakespeareschen Figur, nicht die
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