Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
ihr einen Hausbesuch machte. Während sie zum Auto zurückkehrten, war sich Fabel der Zerbrechlichkeit seiner Mutter schmerzlich bewusst geworden. Lex hatte vorgeschlagen, dass Fabel, da er an einem sehr wichtigen Fall arbeitete, nach Hamburg zurückkehrte, während er selbst in den kommenden Tagen noch in Norddeich bleiben werde. Der Hauptkommissar war seinem Bruder dankbar für diese Entlastung, obwohl er ein gewisses Schuldgefühl nicht unterdrücken konnte.
»Nur keine Aufregung«, hatte Fabels Mutter ihn beruhigt. »Du weißt, wie sehr ich so etwas hasse. Ich komme schon über die Runden. Du kannst mich am nächsten Wochenende besuchen.«
Sobald Fabel wieder auf der A 28 war, rief er Werner im Präsidium an. Nachdem Werner sich nach dem Befinden von Fabels Mutter erkundigt hatte, diskutierten sie über den Fall.
»Wir haben eine Bestätigung vom Institut für Rechtsmedizin«, sagte Werner. »Die DNS von dem Mädchen am Strand stimmt nicht mit den bei Frau Ehlers gemachten Abstrichen überein. Jedenfalls ist das Mädchen nicht Paula Ehlers.«
»Hat Anna Fortschritte bei der Aufdeckung ihrer wirklichen Identität gemacht?«
»Nein. Sie hat ihre Suche ausgeweitet und ein paar passende Fälle gefunden, aber die Vermissten erwiesen sich bei genauer Nachprüfung als nicht mit dem Opfer identisch. Seit deiner Abfahrt ist Anna unermüdlich auf der Suche… Gott weiß, wann sie das Präsidium gestern Abend verlassen hat. Oh, übrigens, als Möller gestern wegen des DNS -Ergebnisses angerufen hat, wollte er auch seinen Autopsiebefund mit dir besprechen. Der arrogante Schnösel war nicht bereit, mit mir zu reden – du kennst ihn ja. Er meint, der Bericht werde bei deiner Rückkehr auf deinem Schreibtisch liegen. Aber ich habe ihm erklärt, dass ich die wichtigsten Fakten erfragen und sofort an dich weitergeben soll.«
»Was hat er daraufhin gesagt?«
Werners verzögerter Redefluss ließ erkennen, dass er seine Notizen durchblätterte. »Die Tote ist laut Möller fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Es gibt Anzeichen der Vernachlässigung: schlechte Zähne, ein paar alte, nicht sachgerecht behandelte Brüche und so weiter.«
»Dann könnte sie über einen langen Zeitraum misshandelt worden sein«, meinte Fabel. »Was vielleicht bedeutet, dass der Mörder ein Elternteil oder ein sonstiger Erziehungsberechtigter war.«
»Das würde auch erklären, warum Anna das Mädchen nicht auf den Vermisstenlisten finden kann«, sagte Werner. »Wenn ein Elternteil verantwortlich ist, wurde möglicherweise nochgar keine Vermisstenmeldung abgegeben, damit wir dem Mörder nicht auf die Spur kommen.«
»Das klingt erst einmal einleuchtend.« Fabel schwieg einen Moment lang, um nachzudenken. »Allerdings spricht dagegen, dass Kinder auch außerhalb ihrer Familie existieren. Es muss eine Schule geben, in der ihre Abwesenheit auffällt. Und sie muss Freunde und Verwandte haben, die sie vermissen.«
»Anna ist längst so weit, Chef. Sie überprüft bereits die Anwesenheitslisten der Schulen. Bisher ebenfalls ohne Ergebnis. Und du kannst auch einen möglichen Freund auf die Liste setzen. Möller sagt, das tote Mädchen war sexuell aktiv, aber es gibt keinen Hinweis auf sexuelle Kontakte in den letzten beiden Tagen vor dem Mord.«
Fabel seufzte. Er sah, dass er Ammerland hinter sich gelassen hatte, und ein Schild wies auf die Ausfahrt zu seiner alten Universitätsstadt Oldenburg hin. Ostfriesland lag noch nicht weit hinter ihm, und schon tauchte er wieder in den Morast der Grausamkeiten ein, die Menschen einander – und ihren Kindern – zufügen können. »Noch etwas?«
»Nein, Chef. Höchstens vielleicht, dass das Mädchen laut Möller in den 48 Stunden vor ihrem Tod nicht viel gegessen hat. Kommst du zurück ins Präsidium?«
»Ja. In ungefähr zwei Stunden.«
Er legte auf und schaltete das auf NDR 1 eingestellte Radio an. Ein Literaturwissenschaftler kritisierte gerade einen Autor, der einen offenbar sehr umstrittenen Roman geschrieben hatte. Ein Großteil der Diskussion war bereits vorbei, aber Fabel begriff, dass sich der Autor einer fiktiven These bediente, der zufolge eine bekannte historische Persönlichkeit ein Kindesmörder war. Das Gespräch setzte sich fort, und Fabel erfuhr, dass es sich bei der Persönlichkeit um einen der Brüder Grimm handelte, jener Philologen des neunzehnten Jahrhunderts, die deutsche Sagen, Märchen, Mythen und Volkslieder gesammelt hatten.
Der Literaturwissenschaftler ereiferte sich immer mehr,
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