Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
des historischen Macbeth. Wir verwandeln nicht einfach Geschichte in Sage und dann in Mythos, sondern wir erfinden hinzu, schmücken aus, verfälschen. Schließlich werden Mythos und Sage zur dauerhaften Wahrheit.«
Der Literaturwissenschaftler ignorierte die Entgegnung des Autors und wiederholte seinen Vorwurf, dass der Roman Jacobs Grimms Ruf beeinträchtige. Dann wurde die Debatte wegen des Endes der Sendezeit abgebrochen. Fabel schaltete das Radio aus. Unwillkürlich dachte er über die Worte des Schriftstellers nach: darüber, dass es unter den Menschen immer das gleiche Böse, die rein zufällige grausame Gewalt und den brutalen Tod gegeben habe. Der kranke Unmensch, der das Mädchen erwürgt und ihre Leiche dann am Strand abgelegt hatte, war damit nur der Letzte in einer Reihe psychopathischer Geister.
Fabel wusste dies natürlich seit langem. Er hatte ein Buch über Gilles de Rais gelesen, den französischen Aristokraten des sechzehnten Jahrhunderts, dessen absolute Macht über sein Lehen ihm ermöglichte, jahrelang ungestraft Jungen zu entführen, zu vergewaltigen und zu ermorden. Die geschätzte Zahl der Opfer lag in den Hunderten und mochte sogar die Tausende erreicht haben. Andererseits hatte Fabel sich einzureden versucht, dass der Serienmörder ein modernes Phänomen sei: das Ergebnis einer sich auflösenden Gesellschaftsordnung, dasProdukt kranker Geister, die durch Missbrauch geschaffen und durch die Verfügbarkeit widerlicher Pornos auf der Straße oder im Internet inspiriert würden. In diesem Glauben verbarg sich eine gewisse Hoffnung, denn wenn nur unsere heutige Gesellschaft solche Ungeheuer hervorbrachte, waren wir vielleicht in der Lage, das Problem zu lösen. Ihre Akzeptanz als grundlegender Bestandteil der menschlichen Existenz hingegen schien der Aufgabe fast jeder Hoffnung gleichzukommen.
Fabel schob eine CD in den Player. Während Herbert Grönemeyers Stimme den Innenraum des Autos erfüllte und die Kilometer vorbeiglitten, versuchte er, seine Gedanken von dem im Wald lauernden ewigen Bösen abzulenken.
In seinem Büro rief Fabel als Erstes bei seiner Mutter an. Sie versicherte ihm, es gehe ihr immer noch gut. Lex mache viel Aufhebens um sie und bereite herrliche Mahlzeiten zu. Ihre Stimme am Telefon schien das Gleichgewicht in Fabels Universum wieder herzustellen. Aus der durch die Leitung überbrückten Distanz wirkten ihr markanter Akzent und ihr Timbre wie die einer jüngeren Mutter. Einer Mutter, deren Gegenwart er stets für einen unveränderlichen, unerschütterlichen Bestandteil seines Lebens gehalten hatte. Als Nächstes rief er Susanne an, und sie verabredeten, sich nach der Arbeit in seiner Wohnung zu treffen.
Anna Wolff klopfte an Fabels Tür und trat ein. Ihr Gesicht mit dem dunklen Eyeliner unter dem schwarzen Haarschopf wirkte noch bleicher als sonst. Der zu rote Lippenstift schien vor der müden Blässe ihrer Haut aufzuflammen.
»Du siehst aus, als bekämst du nicht viel Schlaf«, sagte Fabel und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.
»Du auch, Chef. Wie geht’s deiner Mutter?«
Fabel lächelte. »Besser, danke. Mein Bruder bleibt noch ein paar Tage bei ihr. Wie ich höre, mühst du dich immer noch damit ab, die Identität des Mädchens herauszufinden.«
Anna nickte. »Nach dem Autopsiebericht wurde sie in den früheren Jahren vernachlässigt und wahrscheinlich misshandelt. Vielleicht ist sie vor langer Zeit irgendwo in Deutschland oder sogar im Ausland davongelaufen. Aber ich bleibe dran.« Sie zögerte, als sei sie sich nicht sicher, wie Fabel auf ihre nächsten Worte reagieren würde. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, Chef, aber ich habe auch den Fall Paula Ehlers gründlich unter die Lupe genommen. Mein Gefühl sagt mir, dass wir es in beiden Fällen mit demselben Mann zu tun haben.«
»Wegen der falschen Identität, die er in der Hand des toten Mädchens hinterlassen hat?«
»Deshalb und auch, weil die beiden Mädchen, wie du selbst unterstrichen hast, einander so ähnlich sind, dass er Paula Ehlers vermutlich in natura und nicht nur auf einem Pressefoto gesehen hat. Schließlich mussten wir DNS -Tests durchführen lassen, um sicherzustellen, dass das tote Mädchen nicht Paula Ehlers ist.«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst. Also, was hast du unternommen?«, fragte Fabel.
»Ich bin die Fallunterlagen mit Robert Klatt durchgegangen.«
»Verdammt, Kommissar Klatt hatte ich ganz vergessen. Wie gewöhnt er sich ein?«
Anna hob die Schultern. »Gut. Er ist
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