Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
immer zu viele Sorgen gemacht.« Lex lachte plötzlich. »Du warst ein so ernster Junge.«
»Und du warst nie ernst, Lex. Du bist immer noch ein Junge«, sagte Fabel ohne einen Hauch von Bitterkeit.
»Es geht nicht nur um Mutti, oder?«, fragte Lex. »Du bist verkrampft, das spüre ich. Noch verkrampfter als sonst.«
Fabel hob die Schultern. Die Lichter der Fähre waren hinter der Landzunge verschwunden, und die Sterne hatten die Nacht wieder für sich allein. »Wie gesagt, Lex, mein laufender Fall ist ein schwerer Brocken.«
»Warum erzählst du mir zur Abwechslung nicht einmal davon, Jan? Du sprichst nie über die Dinge, die dich belasten. Das war schon in deiner Ehe mit Renate nicht anders. Es könnte ein Teil des Problems zwischen euch gewesen sein.«
Fabel schnaubte. »Das Problem zwischen uns war, dass sie anfing, sich mit einem anderen rumzutreiben. Dadurch habe ich meine Tochter verloren.« Er drehte sich zu Lex um. »Aber vielleicht hast du Recht. Ich sehe unvorstellbare Dinge und erfahre, was Menschen einander antun können. Dinge, von denen man besser sein ganzes Leben lang nichts wissen sollte. Wenn ich nicht darüber spreche, dann nicht deshalb, weil ich abweisend bin, sondern weil ich versuche, andere davor zu schützen. Das hat Renate nie verstanden. Und sie hat auch nie begriffen, dass ich manchmal alles – meine Aufmerksamkeit, meine Zeit – für einen Fall einsetzen muss. Das schulde ich den Opfern und ihren Familien. Vielleicht passen Susanne und ich deshalb gut zusammen. Als Gerichtspsychologin muss sie durch denselben Schmutz stapfen wie ich. Sie weiß, was für ein Drecksjob das sein kann und wie man darunter leidet. Renate hat immer gesagt, es sei eine Art Spiel für mich. Ich gegen den Übeltäter. Ein Wettkampf. Aber so ist es nicht, Lex. Ich messe mich nicht mit irgendeinem listigen Feind, sondern ich versuche, einem kranken Geist zuvorzukommen und ihn zu erwischen, bevor er sein nächstes Opfer erreicht. Es geht nicht darum, einen Verbrecher zu fangen, sondern darum, ein Leben zu retten.«
Lex seufzte. »Ich weiß nicht, wie du das schaffst, Jan. Wahrscheinlich verstehe ich, warum , aber ich kann nicht begreifen, wie du mit all dem Schmerz und Entsetzen fertig wirst.«
»Manchmal schaffe ich es nicht, Lex. Nehmen wir zum Beispiel diesen Fall. Den Ausgangspunkt bildet ein Mädchen… fünfzehn, vielleicht sechzehn Jahre alt, erwürgt und an einem Strand zurückgelassen. Ein Mädchen wie Gabi. Ein Mädchen wie deine Karin. Ein junges Leben, das ausgelöscht wurde. Das ist schlimm genug, aber der Scheißkerl hat ihr einen Zettel mit dem Namen und der Adresse eines anderen Mädchens in die Hand gedrückt, eines Mädchens, das seit drei Jahren vermisst wird. Das ist makaber und unglaublich grausam… als hätte er geplant, eine Familie zu zerstören, die ohnehin schon zerbrochen ist.«
»Und es war ganz bestimmt nicht dasselbe Mädchen?«
»Wir sind fast sicher. Aber um einen Irrtum auszuschließen, musste ich die arme Mutter einem DNS -Test aussetzen.«
»Meine Güte«, sagte Lex und schaute über die Dünen und die dunklen, samtenen Wellen hinweg. »Meinst du, dass der Mörder des Mädchens am Strand vielleicht auch das vermisste Kind umgebracht hat?«
Fabel zuckte die Achseln. »Das ist sehr wahrscheinlich.«
»Also ist es wieder ein Rennen gegen die Uhr. Du musst ihn erwischen, bevor er noch ein Mädchen tötet.«
»So sieht’s aus.«
Lex atmete langsam durch. »Es wird kalt hier draußen, und ich könnte noch ein Bier gebrauchen.« Er stand auf und schlug Fabel mit der Hand auf die Schulter. »Lass uns reingehen.«
Fabel warf einen letzten langen Blick auf die Dünen und das Meer, bevor er sich erhob und seinem Bruder den Deich hinunter folgte, zurück zum Haus ihrer Kindheit.
8.
Norddeich, Ostfriesland, Freitag, den 19. März, 15.30 Uhr
Fabel hatte nicht gut geschlafen. Er hatte von der jungen Hilke Tietjen geträumt, die am Norddeicher Strand entlanglief und ihn aufforderte, ihr zu folgen. Plötzlich verschwand sie hinter einer Düne, doch als Fabel sie einholte, lag nicht Hilke im Sand, sondern ein anderes Mädchen an einer anderen Küste, das mit starren, himmelblauen Augen zu Fabel aufschaute.
Am Morgen waren Lex und er nach Norden gefahren, um ihre Mutter zu besuchen. Man hatte ihnen mitgeteilt, sie sei in einem hinreichend guten Zustand, um entlassen zu werden, aber man werde dafür sorgen, dass in der nächsten Zeit vorsichtshalber noch täglich ein Arzt bei
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