Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Deiches hinauf, setzte sich auf seine Krone, stützte die Ellbogen auf die Knie und hob die Flasche des würzigen Bieres hin und wieder an die Lippen. Die Nacht war frisch und klar, und der unendlich weite Himmel war von Sternen übersät. Vor ihm erstreckten sich die Dünen, und auf halbem Weg zum Horizont bemerkte er die funkelnden Lichter eines heimkehrenden Fischkutters.
Dieser Ort, an dem er oberhalb des flachen Landes hinter sich und des flachen Meeres vor sich saß, war eine weitere Konstante. Hier hatte er als Junge, als Jugendlicher und als Mann oft gesessen. Fabel atmete tief ein und versuchte, die ihn bedrängenden Gedanken hinwegzufegen, aber sie schwirrten ihm weiterhin unerbittlich durch den Kopf. Das Bild einer längst verschwundenen Hilke Tietjen in den Norddeicher Dünen überschnitt sich mit dem des toten Mädchens am Strand von Blankenese. Er dachte daran, wie sich sein Elternhauswährend seiner Abwesenheit geändert hatte und wie Paula Ehlers’ Heim während ihres Verschwindens in der Zeit erstarrt war. Die Fähre, die letzte des Abends, näherte sich dem Norddeicher Ufer. Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Jever und versuchte, sich an Hilke Tietjens jetziges Aussehen zu erinnern, doch es gelang ihm nicht, denn das Bild der halbwüchsigen Hilke schob sich in den Vordergrund. Wie konnte sich jemand so sehr verändern? Und irrte er sich, was das tote Mädchen anging? Konnte sie sich in einem kurzen Zeitraum derart gewandelt haben?
»Habe mir gedacht, dass ich dich hier finde…«
Fabel zuckte beim Klang der Stimme zusammen. Er drehte sich halb um und sah seinen hinter ihm stehenden Bruder Lex. »Herrgott, Lex. Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt!«
Lex lachte und gab Fabel einen kräftigen Stoß mit dem Knie. »Du verbringst zu viel Zeit mit Ganoven, Jannik. Deshalb erwartest du wahrscheinlich immer, dass sich einer an dich heranschleicht. Du musst dich abregen.« Er setzte sich neben seinen Bruder und drückte Fabel eine der beiden weiteren Flaschen Jever, die er aus dem Kühlschrank geholt hatte, an die Brust.
»Ich hatte erst morgen mit dir gerechnet«, sagte Fabel mit einem herzlichen Begrüßungslächeln.
»Ich weiß, aber ich habe meinen Sous-Chef überreden können, eine Doppelschicht für mich einzulegen. Mit ihm und dem übrigen Personal wird Hanna schon zurechtkommen, bis ich zurück bin.«
Fabel nickte. Lex besaß ein Hotelrestaurant auf der Insel Sylt.
»Wie geht’s Mutti?«
»Gut, Lex. Wirklich gut. Sie wird wahrscheinlich morgen rauskommen. Es war ein sehr leichter Anfall, meinen die Ärzte.«
»Es ist zu spät, sie heute Abend noch zu besuchen. Ich fahre morgen so früh wie möglich.«
Fabel musterte Lex. »Älter an Jahren, doch jünger im Geist«, lautete die Wendung, mit der er seinen älteren Bruder gewöhnlich beschrieb. Sie hatten nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander. Fabel war ein typischer Norddeutscher, während Lex die keltischen Wurzeln seiner Mutter widerspiegelte. Er war beträchtlich kleiner als Fabel und hatte dichtes dunkles Haar. Und die Unterschiede beschränkten sich nicht auf ihr Äußeres. Fabel beneidete Lex häufig um seine Sorglosigkeit und seinen unverwüstlichen Humor. Lex fiel es leichter zu lächeln als seinem jüngeren Bruder, und seine gute Laune hatte ihre Spuren in seinem Gesicht, besonders um die Augen, hinterlassen.
»Was machen Hanna und die Kinder?«, fragte Fabel.
»Alles wunderbar. Du weißt schon, das übliche Chaos. Aber es geht uns allen prächtig, und das Hotel hat ein gutes Jahr gehabt. Wann kommst du mal mit deiner sexy Psychologin vorbei?«
»Bald, hoffe ich. Aber ich schlage mich gerade mit einem teuflischen Fall herum, und auch Susanne hat eine Menge Arbeit. Egal, mit etwas Glück sollte es nicht zu lange dauern. Und ich kann weiß Gott eine Erholungspause gebrauchen.«
Lex nahm einen weiteren Schluck Bier und legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter. »Du siehst müde aus, Jan. Es war ein böser Schock mit Mutti, nicht wahr? Ich werde jedenfalls keine Ruhe haben, bevor ich sie nicht morgen gesehen habe.«
Fabel schaute seinem Bruder in die Augen. »Es war ein schlimmer Schlag, Lex. So ähnlich wie damals, als ich wegen Papa angerufen wurde. Ich habe einfach nie über ein Leben ohne Mutti nachgedacht.«
»Ich weiß. Aber wenigstens ist es nicht allzu ernst.«
»Diesmal«, sagte Fabel.
»Das Leben ist voller Probleme, die wir bewältigen müssen, wenn sie sich auftun, Jan. Du hast dir
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