Jane Christo - Blanche - 01
Gedanken freien Lauf.
Sie hatte noch zwei Tage, um Waynes Mörder zu erledigen und seine Seele zu befreien, bevor diese sich auflöste – oder von Saetan geschluckt wurde. Also musste sie in spätestens vierundzwanzig Stunden untertauchen. Beliar würde sie sicher nicht von ihrem Deal entbinden, der ihr mittlerweile ziemliche Kopfschmerzen bereitete. Sie hatte nie vorgehabt, ihn einzuhalten, Ganovenehre war etwas für Romantiker. Bisher war sie allerdings auch davon ausgegangen, dass es sich bei Beliar um einen durchgeknallten Spinner handelte, der ein paar coole Tricks auf Lager hatte. Damit war es nun vorbei. Der Typ war ein waschechter Dämon und was das bedeutete, konnte sie sich nicht einmal im Traum vorstellen. Neben seinen Flugkünsten war er kugelfest. Er hatte die Wucht der Granatenexplosion abgefangen. Wenn er wollte, konnte er die Menschen dazu bringen, ihn nicht zu sehen, was in seiner Branche unbezahlbar war. Ihre Chancen, ihn zu verarschen, standen also ziemlich schlecht. Blieb das Problem, dass er etwas von ihr wollte, das sie ihm nicht geben würde: Waynes Seele. Wenn sie den Dämon nicht zu diesem mysteriösen Ort führte, würde er sie an Waynes Stelle zu Saetan schleppen.
Sie schnaubte. Als ob sie Waynes Seele ausliefern würde. Wobei immer noch offen war, wie sie dieses Teil überhaupt finden sollte. Einen Ort, der sie mit Wayne verband? Das führte sie zur nächsten Frage. Wer zur Hölle war Wayne eigentlich? Sie hatte immer angenommen, das zu wissen, aber damit lag sie eindeutig falsch. Natürlich war ihr klar, dass er nicht als Killer geboren wurde. Dass es ein Leben vor dem Töten gegeben hatte. Aber genauso wenig, wie sie über ihre Vergangenheit reden wollte, hatte Wayne das Bedürfnis gehabt, sich ihr mitzuteilen. Sie hatte das immer respektiert und den Mund gehalten. Auf diese Weise war eine unausgesprochene Übereinkunft entstanden. Wenn du nicht fragst, frage ich auch nicht. Heute bereute sie ihr Schweigen, denn es fühlte sich falsch an, dass Leo, dieser verräterische Drecksack, ihren Mentor besser kannte als sie. Er wusste sogar über Waynes Familie Bescheid, über seine Frau, und dass sie sich wegen Geld gestritten hatten. Dass seine Tochter Marie hieß und ihr ähnlich sah. Und sie saß hier und wusste einen Scheiß.
Blanche schluckte den Rest des Apfels und zerbiss wütend das Kerngehäuse. Der Ort, der sie mit Wayne verband? Nichts leichter als das. Er hatte sie von der Straße aufgelesen, und wenn sie sich richtig erinnerte, war es in einer Novembernacht wie dieser gewesen.
Sie verschluckte sich an einem Apfelkern und setzte sich bolzengerade auf. Verfluchter Mist! Die Gasse, aus der er sie gerettet hatte! Die kleine Straße, in der sie sich das erste Mal begegnet waren. Wo er Zoeys Männer erschossen und ihr ein neues Leben geschenkt hatte. Wenn es einen Ort gab, der sie miteinander verband, dann dieser.
Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Vielleicht weil es viele Orte gab, die sie mit Wayne geteilt hatte. Solange sie zusammen waren, war sie glücklich gewesen. Aber für ihn kam nur diese Gasse infrage, denn von diesem Moment an hatte er mit seinen Prinzipien gebrochen, sein ganzes Leben geändert. Von diesem Augenblick an war er kein Einzelgänger mehr. Er hatte seine Tochter in ihr wiederentdeckt und wollte ihr eine Chance geben. Eine, die Marie nicht bekommen hatte.
Blanche zitterte vor Aufregung – sie musste in diese Gasse. Jetzt! Beliar war kein Idiot, er konnte spüren, dass sie aufgekratzt war. Einmal tief einatmen und er würde ihre Stimmung auf der Zunge schmecken und sie saß in der Falle.
Kaum war sie aus der Wanne gestiegen, suchte sie ihre Klamotten zusammen und zog sich an. Sie überprüfte das Fenster und Bingo, es führte zu einem Innenhof voller asiatischer Bonsaipflanzen. Nachdem sie ihre Ausrüstung angelegt hatte, schwang sie sich über das Geländer und landete in einem Farn, den man in einen riesigen Topf gepflanzt hatte, der wie eine umgedrehte Kirchenglocke aussah. Im Stillen verfluchte sie Beliar, dass er sie so weitab vom Schuss einquartiert hatte. Bis zum Boulevard de Clichy wäre sie zu Fuß eine Dreiviertelstunde unterwegs. Also würde sie die Metro bis zur Pigalle nehmen, dann könnte sie es in zwanzig Minuten schaffen.
5
D
ie Linie zwei folgte dem Boulevard de Courcelles und schließlich dem Boulevard de Clichy. Nach acht Stationen stieg sie an der Pigalle aus und überquerte den breiten Straßenstreifen. An der Ecke befand sich
Weitere Kostenlose Bücher