Jane Christo - Blanche - 01
nichts. Glücklicherweise verfügte sie über gutes Heilfleisch und konnte nach vierzehn Tagen erstmals das Bett verlassen. Nachdem Camille, ihre Freundin aus Schlafsaal sieben, Blanches Anziehsachen ins Krankenzimmer geschmuggelt hatte, wartete diese auf einen günstigen Moment zur Flucht. Sie wusste, dass dies vielleicht ihre letzte Chance war, diesem Irrenhaus zu entkommen. Einen weiteren Gewaltausbruch dieser Art würde sie womöglich nicht überleben. Alle Fenster im Heim waren vergittert, das Foyer streng bewacht – als wären sie Kriminelle. Die Küche verfügte über einen Lieferanteneingang, doch der war selbst nachts zu gut gesichert. Die Krankenstation besaß ebenfalls einen separaten Zugang, doch im Gegensatz zu den Küchen wurde dieser eher nachlässig überwacht.
Blanche ergriff die Gelegenheit und präparierte in einer Pause der Schwestern das Seitenblech der Außentür mit einem Heftpflaster, sodass der Schnapper nicht einrasten konnte. Diese Pforte war eine der wenigen, die nicht abgesperrt wurde, weil sie statt einer Klinke nur einen Knauf besaß und man sie mit einem Schlüssel öffnen musste. Ein automatischer Türschließer sorgte zudem dafür, dass sie nicht offen stand, darum machte sich niemand die Mühe, sie extra zu verriegeln.
Und so lief sie in der Nacht davon, mit nichts als den Sachen, die sie am Körper trug. In der Metro hatte Andrej sie aufgelesen. Da sie zunächst nicht sprach, nannte er sie nach der Station, an der sie ausstiegen: Blanche. Der Name stand ihr gut, denn unter ihren blauen Flecken war sie bleich wie ein Gespenst. Zudem schien sie keine Vergangenheit zu haben – zumindest keine, über die sie reden wollte.
Ihr neuer Freund hatte sich nach einem berühmten Karikaturisten und Chansonnier des neunzehnten Jahrhunderts benannt: André Gill. Da er ursprünglich aus der Ukraine stammte, bevorzugte er die russische Variante: Andrej.
Während sich Blanche nun zögernd der Gasse näherte, stürmten die Erinnerungen wie Peitschenhiebe auf sie ein. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Kind, das sie einmal war, ein elfjähriges Mädchen, zu klein für ihr Alter, blass, mit zerzaustem, pechschwarzem Haar. Tränen hatten Spuren auf ihrem schmutzigen Gesicht hinterlassen. Zusammengekauert saß sie auf den Stufen ihres Unterschlupfs und wartete auf die Rückkehr ihres Freundes.
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Damals gab es hier kein Hotel. Die Häuser in dem engen Karree standen leer und dienten ihnen als Nachtquartier: zweite Etage, dritte Tür links.
Die Flashbacks schleuderten ihren Geist wie ein Katapult aus ihrem Körper. Sie beobachtete die kleine Blanche, wie man sich in einem Traum sieht – einem Albtraum in diesem Fall. Damals war sie voller Angst gewesen, weil Andrej nicht zurückgekommen war. Zwei Nächte zuvor hatte eine schwarze Limousine in der Gasse angehalten. Die Türen hatten sich geöffnet und drei Männer waren ausgestiegen. Sie suchten jemanden und redeten mit ihrem Freund und Beschützer, zeigten mit dem Finger auf sie.
Sie zuckt zusammen, läuft aber nicht davon, denn sie weiß, dass sie ihren Freund mit diesen Leuten nicht allein lassen darf. Als Andrej nach einem langen Blick auf sie in den Wagen steigt, spürt sie die namenlose Gefahr, in der er schwebt. Ihr ist klar, dass er sich an ihrer Stelle angeboten hat. Die Angst um ihn schnürt ihre Kehle zu. Sie friert entsetzlich. Es ist so kalt. Und sie ist so allein
.
Nicht fühlen!
Blanches Geist stieg noch ein wenig höher, bis er eine erträgliche Distanz zwischen sich und das Kind von damals gebracht hatte. Sie erinnerte sich an das Mädchen, das starr vor Angst und Kälte auf Andrejs Rückkehr wartete. Aber er kam nicht. Nicht in dieser Nacht und nicht am nächsten Tag.
Am darauf folgenden Abend bog die Limousine abermals in die Gasse ein. Das Mädchen war erleichtert, so sehr, dass es die Regel vergaß: Traue niemandem!
Als sich die Tür öffnet, steigt nicht ihr Freund aus, sondern ein blonder Mann mit hellblauen Augen. Er starrt sie an. Das Mädchen versucht, in den Wagen zu sehen, sucht seinen Freund
.
„Andrej?“
„Er wartet auf dich“, flüstert der Mann heiser. Er ist wunderschön, doch etwas stimmt nicht mit ihm. Sie spürt die Bedrohung, die in Wellen von ihm ausgeht. Und doch: Er sieht wie ein Engel aus, strahlend schön, das Haar, ein goldblonder Lichtkranz, der sein Gesicht einrahmt. Das Mädchen versucht, zurück ins Haus zu laufen, doch es hat die beiden Männer nicht
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