Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
der aufgeregten Mädchenschar ihre Dienste an.
Inmitten dieses Tumults, und während meine Augen und Ohren vollauf mit der Szene beschäftigt waren, welche sich vor mir abspielte, hörte ich plötzlich ein leises, wiederholtes Räuspern dicht neben mir. Ich drehte mich schnell um und erblickte Sam.
»Ich bitte Sie, Miss, die Zigeunerin behauptet, dass noch eine junge, unverheiratete Dame hier im Zimmer sein muss, welche nicht bei ihr gewesen ist, und sie bleibt dabei und schwört hoch und heilig, dass sie nicht eher fortgeht, als bis sie alle gesehen hat. Ich dachte, dass es keine andere sein könne als Sie. Sonst ist niemand mehr da. Was soll ich ihr sagen?«
»Ach, ich werde natürlich gehen«, entgegnete ich. Und ich freute mich der unerwarteten Gelegenheit, meine heftig erregte Neugier befriedigen zu können. Ich schlich zum Zimmer hinaus, ohne dass auch nur ein einziger Blick mir folgte. Die ganze Gesellschaft war noch mit dem soeben zurückgekehrten bebenden Trio beschäftigt. Leise schloss ich die Tür hinter mir.
»Wenn Sie wollen, Miss«, sagte Sam, »so warte ich in der Halle auf Sie; und wenn sie Ihnen Angst macht, so rufen Sie nur, und ich komme Ihnen zu Hilfe.«
»Nein, Sam, gehen Sie nur wieder hinunter in die Küche,ich fürchte mich durchaus nicht.« – Und ich fürchtete mich in der Tat nicht. Aber die Sache interessierte und erregte mich im höchsten Grade.
Neunzehntes Kapitel
Das Bibliothekszimmer sah sehr friedlich aus, als ich eintrat; die Sibylle – wenn sie denn wirklich eine Sibylle war – saß ganz ruhig und bequem in einem Lehnstuhl vor dem Kamin. Sie trug einen roten Mantel und eine schwarze Haube, die eher ein breitkrempiger Zigeunerhut war, den sie mit einem gestreiften Tuch unter ihrem Kinn festgebunden hatte. Eine gelöschte Kerze stand auf dem Tisch. Sie beugte sich zum Kaminfeuer hinüber und schien beim Lichte der Flammen in einem kleinen, schwarzen Buch zu lesen, vielleicht ein Gebetbuch. Dabei murmelte sie die Worte vor sich hin, wie alte Frauen es oft zu tun pflegen, wenn sie lesen. Auch hörte sie nicht sofort bei meinem Eintreten mit dieser Beschäftigung auf; es sah aus, als wolle sie das Kapitel noch zu Ende lesen.
Ich stand auf dem Teppich vor dem Feuer und wärmte meine Hände, die fast erstarrt waren, weil ich im Gesellschaftszimmer in beträchtlicher Entfernung vom Kamin gesessen hatte. Ich war jetzt bereits so ruhig geworden, wie ich es sonst zu sein pflegte. In der äußeren Erscheinung der Zigeunerin lag tatsächlich nichts, was die Ruhe eines Menschen hätte erschüttern können. Sie schlug das Buch zu und blickte langsam auf. Der breite Rand ihres Hutes beschattete den größten Teil ihres Gesichts, und doch konnte ich, als sie zu mir aufsah, bemerken, dass es ein gar seltsames war: Es war durchweg braun und schwarz; verfilztes Haar quoll unter einer weißen Binde hervor, welche unter dem Kinn zusammenlief und Wangen sowie Kinn zur Hälfte bedeckte. Ihre Augen blickten mich mit einem scharfen, durchbohrenden Blick an.
»Nun, Sie wollen sich ebenfalls wahrsagen lassen?«, fragte sie mit einer Stimme, die ebenso scharf war wie ihr Blick und ebenso hart wie ihr Gesicht.
»Es liegt mir nicht viel daran, Mütterchen; tut, wie Ihr wollt! Aber eins muss ich Euch vorher sagen: Ich glaube nicht daran.«
»Diese Frechheit habe ich von Ihnen erwartet. Ich hörte es an Ihrem Schritt, als Sie über die Schwelle traten.«
»Wirklich? Dann habt Ihr ein scharfes Ohr.«
»Ja, das habe ich. Und ein gar scharfes Auge und einen noch schärferen Verstand.«
»Nun, das alles braucht Ihr auch notwendig für Euer Handwerk.«
»Das brauche ich. Besonders, wenn ich es mit solchen Kunden zu tun habe, wie Ihnen. Weshalb zittern Sie eigentlich nicht?«
»Mich friert nicht.«
»Weshalb werden Sie nicht blass?«
»Ich bin nicht krank.«
»Und weshalb wollen Sie meine Kunst nicht in Anspruch nehmen?«
»Ich bin nicht so töricht.«
Die alte Hexe kicherte leise in ihre Bandagen hinein. Dann zog sie eine kurze, geschwärzte Pfeife hervor, zündete sie an und begann zu rauchen. Nachdem sie sich eine Weile an diesem Beruhigungsmittel erfreut hatte, richtete sie den gebeugten Körper in die Höhe und nahm die Pfeife aus dem Mund. Und während sie unverwandt in das Feuer blickte, sagte sie ganz bedächtig und wohlüberlegt:
»Es friert Sie, Sie fühlen sich unwohl und Sie sind töricht.«
»Beweist mir das«, entgegnete ich.
»Das werde ich mit wenigen Worten tun. Es friert
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