Jane Reloaded - Roman
wirklich?«
»Achtzehn Jahre.«
Er sieht älter aus, denkt Jane, erwachsener. Wahrscheinlich haben HE-Jungen eine auffallend kürzere Kindheit als der Nachwuchs von Homo sapiens. Die Frage muss sie in ihr Heft notieren und überprüfen. Sie freut sich jedenfalls, ihn morgen wiederzutreffen. Gut, dass er jetzt einen richtigen Namen hat, wie jeder Mensch.
»LL-HEs-Y-10/III heißt jetzt Jamie!«, verkündet sie Rita, bei der Jane das HEs-Laute-Buch vor dem Abendessen noch schnell abholt.
»Das freut mich«, antwortet Rita, »ich habe Gregors Widerstand gegen die Namen nie geteilt. In Asien gibt es ein altes Sprichwort: Wenn der Tiger stirbt, lässt er sein Fell zurück, der Mensch aber seinen Namen.«
Am Morgen des vierten Tages sitzt Jane pünktlich im Begegnungsraum, dieses Mal ebenfalls auf einer Bodenmatte. Sie fiebert der zweiten Begegnung mit Jamie entgegen. Als die Tür aufgeht und er hereinkommt, steuert er sofort auf seine vertraute Unterlage zu und nimmt vor ihr Platz.
Jane hat ihn stattlicher in Erinnerung gehabt. Heute scheint vor ihr eher ein Kind in Mannesgestalt zu sitzen und das kommt ihr ein wenig lächerlich vor.
Hier ist der lebende Beweis, denkt sie, dass der Mensch ab seiner Geburt auf dem Weg vom Säugling bis zum Erwachsenen wie im Zeitraffer die ganze Humanevolution durchläuft, vom vierfüßigen Krabbeln über das Aufrichten bis zum Tanzen, vom Lallen bis zum Sprechen und Dichten, vom reinen Instinkt zur bewussten Kontrolle, von der Natur zur Kultur. Und dieses Exemplar scheint noch ziemlich am Anfang zu stehen.
Wie ein Fünfjähriger, der spielen und lernen will, so erwartungsvoll starrt er sie an, aber auch so unbedarft.
Ob er sich überhaupt an mich erinnert, fragte sie sich, was geht ihm jetzt gerade im Kopf herum, vielleicht: schön frau hand gut? Wie vor zwei Tagen streckt sie den Arm aus, dreht die geöffnete Hand nach oben und wartet.
Er reagiert heute schneller, sie hat vier Sekunden gezählt. Doch als sich ihre helle und seine dunkle Hand umfassen, stellt sich der Zauber der ersten Berührung nicht wieder ein. Kein Kribbeln, keine Rührung – nichts. Wahrscheinlich weiß sie inzwischen zu viel über ihn und beobachtet ihn zu kritisch, so erklärt sich Jane die Distanz. Trotzdem ist sie ein wenig enttäuscht. Ihm scheint es ähnlich zu gehen, spürt sie, denn er lässt ihre Hand sofort wieder los. Wahrscheinlich wegen frau kalt hand kalt auge.
Nach dem kurzen Händedruck macht zuerst Jane und dann er die Armbewegung zum Herzen hin, begleitet von einem lauten »Haart«. Wenigstens das läuft heute wie erwartet.
Mit ihren vier Fingern und dem Daumen bildet sie eine stumpfe Spitze. Diese universale Zeigegeste wirkt weniger aggressiv als ein ausgestreckter Zeigefinger, haben sie ihr gestern in der Vorbereitung erklärt. Sie tippt mehrmals auf ihr Brustbein und nennt dabei ihren Namen. Dann deutet sie vorsichtig auf ihn und sagt »Jamie«, immer wieder »Jamie«. Ihr Vater hatte recht, ein Schatten des Erkennens huscht über sein Gesicht.
Er wiederholt gehorsam die Gesten und die Namen: »Jamie, Jane!« Mehrmals geht es so hin und her mit Jane und Jamie. Doch dann wechseln sie zum Ich und Du.
Wie bei einem Abzählreim klingt das: einmal ich und einmal du, einmal Jane und einmal Jamie. Ist sein Name an der Reihe, legt er immer mal wieder die Hände über sein Sexualorgan. Janes Gehirn speichert die Beobachtung als »Nutzung einer auf der ganzen Welt üblichen primitiven männlichen Ich-Geste«, wie das im Fachjargon heißt.
Sie greift nach der Leinenhose, die neben ihr auf einem kleinen Tisch liegt, hält ihm das Kleidungsstück hin und lächelt ihn ermutigend an.
»Du Hose. Hier, für dich, Jamie.«
»Für dich Jamie«, wiederholt er langsam, ohne zu stocken. Schon wieder spricht er das »i« vollkommen klar aus. Damit widerlegt er die These einiger Sprachhistoriker, dass der Sprechapparat eines Homo erectus genau diesen Vokal nicht hervorbringen konnte. Wie war darüber spekuliert und heftig gestritten worden, und wie einfach kann die Antwort sein, Jane muss ihm nur zuhören.
Jamie greift nach der Hose, zieht die Beute zu sich. Das Kleidungsstück faltet sich auf, er dreht es vor seinem Körper in allen Richtungen hin und her, nimmt es einmal mit der rechten, dann wieder mit der linken Hand. Er hebt die Hose hoch, schnuppert daran, beißt hinein, reibt den Stoff an seiner Wange.
Jane steht auf, sodass er ihre Hose, ein ganz ähnliches Modell, sehen kann. Sie greift den
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