Jane True 02 - Meeresblitzen
nicht entdeckt oder einfach nicht mit der Sache in Verbindung gebracht wurden?«
Entsetzt von diesem Gedanken lief es mir kalt den Rücken hinunter. Und trotzdem war ein Teil von mir gleichzeitig ganz aufgeregt über unsere Spekulationen. Natürlich waren solche Gedanken weder angenehm noch schön, aber ich hatte immer vermutet, dass mehr hinter Jimmus Morden steckte. Vielleicht stimmten unsere Theorien noch nicht bis in jedes Detail, doch in vielerlei Hinsicht ergaben sie Sinn. Nichtsdestotrotz versuchte Ryu abzuwiegeln.
»Eine gute Theorie«, sagte er zögernd, »aber wir haben bloß Beweise für Jimmus Beteiligung. Und es könnte sich immer noch nur um einen dummen Zufall handeln. Ich gebe zu, deine Überlegungen haben … einen gewissen plausiblen Gehalt. Aber wir bräuchten echte, konkrete, unwiderlegbare Beweise, bevor wir Jarl auf irgendeine Weise beschuldigen.«
»Ich weiß«, sagte ich, »aber es ist zumindest etwas . Eine Verbindung! Selbst wenn wir nichts davon beweisen können, müssen wir wissen, wer unser wahrer Feind ist.«
Unausgesprochen ließ ich meine Überzeugung, dass es sich bei unserem wahren Feind um Jarl handelte. Ryu dagegen sagte nicht, dass er nicht überzeugt war, dass ich Recht hatte. Also befanden wir uns mal wieder in einer Pattsituation.
»Wenn du Recht hast, ist die entscheidende Frage doch: Gibt es noch weitere Labors? Und wenn ja, wo?«, sagte
Ryu vorsichtig. Mir wurde flau im Magen, als er weitersprach. »Und mit was arbeiten sie jetzt, da sie keine Leichen mehr von Jimmu bekommen?«
»Verdammt«, murmelte ich, als mir die Tragweite von Ryus Worten bewusstwurde. Jarl hatte Con verloren, er bekam auch keinen Nachschub an Halblingsleichen mehr für seine Experimente, und er war nun mal nicht der Typ, der so leicht aufgab; ich wollte gar nicht darüber nachdenken, zu welchen Freveltaten er vor diesem Hintergrund fähig war.
»Genau.«
» Gar nicht gut.«
»Nein.«
Langsam dämmerte mir, dass es in diesem Fall um mehr ging als nur um Conleth – und vielleicht sogar um mehr, als Ryu und ich uns auch nur vorstellen konnten.
Und ich war überhaupt nicht scharf darauf, darin verwickelt zu werden.
N achdem Anyan, Daoud, Camille und Julian eingetrof- fen waren, kam Ryu direkt zur Sache. Er erklärte ihnen, was wir uns soeben überlegt hatten, ging aber nicht im Detail auf unsere Hypothesen ein. Vermutlich wollte er sehen, welche Schlussfolgerungen sie selbst ziehen würden.
Da fiel mir plötzlich Ryus Visitenkartenhalter auf. Übernatürliche hatten keine Familiennamen; sie gaben zur Spezifizierung einfach ihre jeweilige Gattung an, also war ich gespannt, welchen Namen Ryu in seiner menschlichen Inkarnation verwendete. Mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als ich es las.
»Ryu T. Tootie?«, rief ich ungläubig, aber Ryu ignorierte mich einfach.
»Ryu T. Tootie?«, wiederholte ich und piekte ihm mit dem Finger in den Bauch. »Ist das dein Ernst? Sag mir, dass das ein Witz ist.«
Ryu sah Daoud verärgert an. »Ich habe eine Wette verloren. Die nächsten zwanzig Jahre muss ich mich als Ryu T. Tootie ausgeben.«
»Ernsthaft?
»Ernsthaft.«
Ich starrte Daoud anerkennend an: »Das muss ja eine ziemlich gute Wette gewesen sein.«
Daoud neigte grinsend seinen dunklen Kopf zu mir hinunter, wobei seine Grübchen zum Vorschein kamen. »Danke. Sie war sogar ziemlich genial.«
»Ryu, da steht, du seist ›persönlicher Berater‹.«
»Ja«, erwiderte Ryu. »Ich nehme immer ›Berater‹. Es ist perfekt: vage, eigentlich bedeutungslos, und trotzdem klingt es nach Geld.«
»Ich wollte, dass er ›Intimberater‹ draufschreibt, aber das war in unserer Wette leider nicht enthalten«, informierte mich Daoud mit ernster Stimme, bis unsere Blicke sich trafen und wir losprusteten.
»Scheiße, heißt das etwa, dass er mir in Zukunft Rechnungen stellen wird?«, fing ich an, mit Daoud herumzublödeln, doch wir wurden von Anyan unterbrochen, der in der Tür lehnte und sich geräuschvoll räusperte. Er wollte wohl, dass wir uns wieder auf unsere Arbeit besannen, aber unsere anzüglichen Bemerkungen schienen ihm auch irgendwie unangenehm zu sein.
Plötzlich verstand ich auch warum. Es erklärte, warum der Barghest immer so nett zu mir war, warum er so viel für mich getan hatte.
Er kannte mich schon mein ganzes Leben lang, hatte mich aufwachsen sehen. Wahrscheinlich hatte ihn meine Mutter schon mit mir zusammengebracht, als ich noch ein Baby war. Vermutlich hatte ich ihn als Kind an
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