Jane True 02 - Meeresblitzen
Grundriss«, sagte er, als wir vor einem riesigen, prachtvollen, alten Haus hielten, das schon fast einem Schloss ähnelte.
»Wow«, hauchte ich. Sieht ganz so aus, als ließe sich mit zwielichtigen Laboratorien eine Menge Geld machen.
Wir gingen zum Eingang, und Ryu murmelte etwas in Richtung der Tür, die sich daraufhin öffnete, als würden wir bereits erwartet. Im Haus war es warm und muffig. Von der Eingangshalle aus konnte ich sehen, dass es sorgfältig für die Reise der Silvers nach Südfrankreich vorbereitet worden war: Die Möbel waren abgedeckt, die Pflanzen mit komplizierten Bewässerungsvorkehrungen versehen und alle elektronischen Geräte abgesteckt worden.
Ich hielt mich dicht hinter Ryu, als wir auf die prächtige Treppe zugingen, die die Eingangshalle dominierte.
»Achte auf die Raumaufteilung oben, und denk daran, wenn wir wieder runterkommen«, sagte er zu mir.
»Okeydokey, Smokey«, erwiderte ich feierlich.
Das Haus war einfach perfekt; ganz offensichtlich hatte hier ein Innenarchitekt seine Hand im Spiel gehabt. Selbst die Familienfotos waren so gewählt, dass es den größtmöglichen Effekt ergab. Tonnenweise Bilder bedeckten die Wände entlang der Haupttreppe, alle zeigten gesunde, wohlhabende Menschen, die allerlei gesunde Dinge taten, die wohlhabende Menschen eben so tun. Ein Baby-Boomer-Pärchen, das ich für Silver und seine Frau hielt, dominierte das Geschehen. Auf einem der Fotos standen sie zu beiden Seiten eines bekannten Politikers. Ein anderes Bild zeigte das gleiche Paar, diesmal in Tenniskluft und mit Schlägern in der Hand, und zwischen ihnen stand ein berühmter Tennisspieler. Auf weiteren Fotos trugen sie Reitbekleidung oder waren wie für ein lässig-elegantes Picknick gekleidet, in Abendgarderobe oder in schicker Businessaufmachung. Immer in Begleitung von jemandem, der entweder berühmt war oder einen ähnlichen Hauch von Reichtum oder Status verströmte.
Ich blieb vor einem Bild von Dr. Silver stehen, das ihn zeigte, wie er das Band bei der Eröffnung eines Kinderkrankenhauses in Chicago durchschnitt, und versuchte mir vorzustellen, wie es sein konnte, dass ein so respektabel wirkender Mann im Grunde nichts war als ein Entführer. Ich starrte das Foto an, suchte nach Anhaltspunkten, bis ich im Hintergrund etwas bemerkte, das mir beinahe den Atem verschlug.
»Was ist los, Jane?«, fragte Ryu, als er auf der Treppe hinter mich trat und ebenfalls das Foto betrachtete.
Ich zeigte auf die Frau hinter Silver. Er sah genauer hin.
»Ach, das ist Amelia Bathgate, von den Bathgates in Chicago. Warum interessierst du dich für sie?« Beinahe hätte ich ihm gesagt, er solle mal genau hinschauen. Aber dann erinnerte ich mich, dass ich Grizzie versprochen hatte, ihr Geheimnis nicht weiterzuerzählen.
»Ähm, ich habe mich bloß gefragt, wie Silver in mancher Hinsicht so integer sein konnte und gleichzeitig so skrupellos. «
»Ja, es ist schwer zu glauben, dass der Typ, dem dieses Haus gehört, der Gleiche ist, der das Labor geleitet hat«, meinte Ryu und strich mir dabei tröstend mit der Hand über den Rücken. »Kommst du mit nach oben, wenn du hier fertig bist?«, fragte er.
»Klar«, erwiderte ich und wandte mich wieder dem Foto zu. »Einen Moment noch.« Ich starrte die Frau auf dem Bild weiter an. Ich verstand, warum Ryu sie nicht erkannt hatte und warum Grizzie behaupten konnte, dass kaum einer die Verbindung zwischen Grizzie, Dusty Nethers und Amelia Bathgate herstellen könnte. Wie durch Zauberhand war sie als Amelia das komplette Gegenteil von allem, für das Grizzie stand. Während Grizzie vor Sexappeal und Charakter nur so strotzte und eine Art chaotischer Lebenslust versprühte, die beinahe anarchisch wirkte, hätte die Frau auf dem Foto die verwitwete Tante eines ultrareligiösen Pastors sein können. Sie trug einen konservativen, maulwurfgrauen Hosenanzug, und ihr Haar war zu einem strengen Knoten zurückgesteckt. Aber es war ihr Gesichtsausdruck, der mich am meisten faszinierte. Er war wie eine menschliche, nichtmagische Variante dessen, was Anyan mir über die Aura beigebracht hatte. Ihr ganzes Erscheinungsbild
– die Haltung der Schultern, die Art und Weise, wie sie den Kopf leicht einzog, als würde sie sich für ihre Größe schämen, der gesenkte Blick – alles schien zu sagen: »Hier gibt es nichts zu sehen. Schenkt mir einfach keinerlei Beachtung.«
Ich konnte nicht glauben, dass Grizzie so viele Jahre lang so gelebt hatte, und fragte mich traurig, ob
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