Jane True 02 - Meeresblitzen
Stärke.
»Tut mir leid, dass du den Babysitter spielen musst«, sagte ich zu meinem Halblingsfreund, der gerade einmal wieder seine Brillengläser mit dem Hemdsärmel polierte.
Er grinste mich an, und seine unglaublich langen Wimpern bildeten einen ausdrucksstarken Rahmen für seine meergrünen Augen, als er mir verschmitzt zuzwinkerte.
»Kein Problem. Ich bin gar nicht so scharf auf die ganze Action«, sagte er. »Wenn das hier ein Film wäre, dann wäre ich der Hacker. Derjenige, der über der Tastatur hängt, Schweißperlen auf der Stirn, und die Musik schwillt an, um davon abzulenken, dass ich eigentlich nur tippe.« Als seine Brille sauber war, setzte er sie wieder auf. »Natürlich stirbt der Hacker normalerweise in diesen Filmen, also hoffe ich, dass es mir besser ergehen wird.«
Ich lachte. »Was habt ihr bloß mit der Popkultur der Menschen? Habt ihr denn keine eigenen Sachen, die ihr zitieren könnt?«
»Ich bin ein Halbling, schon vergessen? Also interessiert
mich auch meine menschliche Seite. Aber alle Reinblütigen lieben dieses Menschenzeug. Menschen wissen, wie man lebt. Jetzt werde ich mal philosophisch und behaupte, es liegt daran, dass sie wissen, dass sie sterben müssen, aber dieses Buch wurde bestimmt schon geschrieben.«
» Der menschliche Makel – unter anderem.«
»Interessante Wahl. Hätte nicht gedacht, dass du ein Philip-Roth-Fan bist.«
»Ich weiß, Frauen sollten ihn eigentlich hassen. Aber ich mag Roth. Er ist zwar brutal, aber ehrlich.«
»Du liest viel, oder?«
»Das war lange mein Lebensinhalt«, erwiderte ich und zog meine Ärmel weiter über die Handgelenke. Meine Gedanken wanderten zu Jason und all die Jahre, die ich um ihn getrauert hatte. Der Schmerz würde zwar immer bleiben, aber mittlerweile hatte ich gelernt, besser damit umzugehen. »Wie auch immer, ja, ich lese. Viel.«
Julian stupste mir mit dem Ellenbogen in die Rippen. Eine nette, wenn auch etwas unbeholfene Geste. »Tja, und jetzt erlebst du selbst genug für drei.«
Ich schnaubte zustimmend.
Wir saßen in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander, bis ich eine Frage stellte, von der ich wusste, dass sie eigentlich unpassend war, aber ich wäre lieber gestorben, als sie nicht zu stellen.
»Kann ich dich mal was ziemlich Indiskretes, sehr Persönliches fragen, Julian?«
»Vielleicht. Kommt drauf an. Was denn?«
»Hast du je deinen menschlichen Vater kennengelernt?«
Julian starrte mich an, und einen Moment dachte ich, er
würde die Antwort verweigern. Aber dann nahm er seine Brille ab und fing erneut an, sie verlegen zu polieren.
»Nein, ich habe ihn nie kennengelernt. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht einmal, dass meine Mutter ihn gut kannte. Er war im Grunde nur ein menschlicher Samenspender. «
Julians Stimme klang nicht verbittert, aber sein normalerweise so warmer Tonfall hatte eine gewisse Schärfe bekommen.
»Tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen.«
»Nein, ist schon gut. Wir Halblinge haben da wohl alle unsere Geschichte…«
Julians Worte wurden von Ryus Stimme unterbrochen.
»Deckung!«, brüllte er, und schon brach die Hölle los.
Ein brennender Körper stürzte aus dem ersten Stock von Tallys Wohnhaus und schlug mit einem abscheulich klatschenden Geräusch unten auf der Straße auf. Sekunden später flog Tallys Wohnung in die Luft.
Julian schützte mich mit seinem schmalen Körper und schirmte uns mit seiner Kraft ab. Wir waren zwei Häuser von der Explosion entfernt und konnten, als Julian sein Schild wieder herunterfuhr, dennoch die Hitze in unseren Gesichtern spüren.
»Meine Fresse!«, sagte ich schwer atmend. Julian sah im orangefarbenen Feuerschein genauso bleich aus wie ich.
»Du bleibst hier«, befahl er und rannte in Richtung des Brandherds davon. Die anderen traten die Eingangstür des Hauses ein, Daoud zog hektisch Feuerlöscher aus seiner Hose und drückte sie den anderen in die Hände. In Tallys Wohnhaus befanden sich mindestens fünf weitere Apartments.
Es war Abendessenszeit, also waren die Leute vermutlich alle zu Hause.
Ich hastete los, hielt aber abrupt inne, als ich die Martinshörner in der Ferne hörte. Sekunden später hielten die ersten von Stefans übernatürlichen Polizeikräften in einem unauffälligen schwarzen Wagen vor dem brennenden Haus. Dann kamen die menschlichen Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei. Die übernatürlichen und die menschlichen Notfallhelfer arbeiteten Hand in Hand. Die einen steuerten die anderen wie meisterliche
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