Januskopf
Spaziergang zur Reichsburg. Wer sollte denn ahnen ...«
Katinka fragte rasch ein paar unverfängliche Dinge, damit Elvira sich beruhigen konnte. Sie erkundigte sich nach Freunden und Hobbys. Da gab es nichts Außergewöhnliches, nur das übliche Leben einer Achtzehnjährigen mit dem gewohnten Auf und Ab.
»Könnte ich mal das Zimmer Ihrer Tochter sehen?«
Elvira Hanf hob ruckartig den Kopf.
»Da haben Sie sich nicht ganz richtig informiert, Frau Palfy«, sagte sie mit einer Spur Schadenfreude in der Stimme. »Bea ist nicht meine Tochter. Sie ist die Tochter meines Bruders.«
Katinka sagte nichts.
»Er und seine Frau starben vor über fünf Jahren bei einem Unfall im Urlaub auf Gran Canaria. Sie waren in einem Geländewagen unterwegs und stürzten in eine Schlucht. Bea wollte nicht mit auf den Ausflug. Sie blieb im Hotel. Ein grauenvoller Schock.«
»Und seitdem haben Sie für Beatrix gesorgt?«
»Ich war eine Weltenbummlerin ohne familiäre Bindung«, sagte Elvira Hanf. »Aber dann ging es ums Ganze. Ich war die einzige lebende Verwandte. Man sollte sich niemals um einen Menschen kümmern. Es bricht einem das Herz, wenn er nicht mehr da ist.«
Sie führte Katinka in den ersten Stock. Beas Zimmer ging zum Salzmarkt. Es war nüchtern eingerichtet und zeigte keinerlei Verspieltheiten, Stofftiere oder Musikposter, sondern wirkte sehr erwachsen. Von einem Foto grinsten sechs Mädchen herab. Sie standen im Schnee und bewarfen den Fotografen mit Schneebällen. Beatrix war leicht zu erkennen: Sie hatte rote Locken, wie ihre Tante.
»Ihre Freundinnen. Sie trafen sich zu einer Skifreizeit in Tirol, um Neujahr herum«, erklärte Elvira Hanf.
Katinka betrachtete die vier Wände, die wenigen Dinge, die Auskunft über ein Leben geben sollten. Sie ahnte, dass Elvira Hanf Stunden hier verbrachte und versuchte, Beatrix nachzuspüren. Katinka straffte die Schultern. Sie musste an ihre Ermittlungen denken und nicht an den Seelenzustand anderer.
»Nehmen wir also an, es war Mord, Frau Hanf«, begann sie.
»Warum sollen wir das annehmen?«
»Sie selbst schließen Selbstmord aus. Ich habe mir die Reichsburg angesehen. Ein Unfall käme in Frage, wenn jemand alkoholisiert oder mit Drogen vollgepumpt dort oben auf der Brücke herumbalanciert. Extrem unvorsichtig ist. Aber eine junge, zufriedene und nüchterne Frau auf einem Abendspaziergang?«
Katinka ahnte, dass sie Elvira Hanf damit einen Gefallen tat, ihre Mutmaßungen offen auszusprechen.
»Ich kann Ihre Gedanken nachvollziehen«, sagte Elvira und setzte sich auf Beas Bett.
»Wenn wir also annehmen«, machte Katinka weiter, »dass jemand sie umgebracht hat, könnten wir die folgende Szenerie vermuten: Ein Mann versucht, sie zu vergewaltigen. Beatrix wehrt sich. Es kommt zu einer Rangelei, der Angreifer stürzt sie über das Geländer und flieht. Denkbar?« »Denkbar. Scheißkerle gibt es überall.«
»Aber so kann es nicht gewesen sein«, sagte Katinka schnell. »Bea würde sich gewehrt haben.«
»Garantiert hätte sie sich gewehrt«, unterbrach Elvira mit Bestimmtheit. »Sie war unheimlich taff. Sie hat sich nichts bieten lassen.«
»Umso besser«, fuhr Katinka fort. »Dann hätte die Polizei Spuren eines Kampfes finden müssen. Außerdem wären auf Beas Kleidern Faserspuren vom Angreifer gefunden worden. Unter ihren Fingernägeln hätten Hautpartikel des Mannes geklebt. Sie selbst hätte ein paar Kratzer abgekriegt. Aber nichts dergleichen war festzustellen. Nur die Verletzungen, die sie sich eindeutig bei dem Sturz zuzog.«
Elvira Hanf wandte sich ruckartig von Katinka ab und hielt sich die Hand vor den Mund. Katinka wartete. Die Ermittler mussten zu dem gleichen Schluss gekommen sein. Wer logisch kombinierte, dachte an Mord. Aber es gab keine eindeutigen Anzeichen. Beatrix Hanf war aus dieser Welt gerutscht, als sei es ein Versehen.
»Mord«, sagte Elvira Hanf unvermittelt und drehte sich um. »Ein großes Wort und eine wahnsinnige Mutmaßung. Aber dann braucht man doch ein Motiv.«
»Richtig«, sagte Katinka. »Nur: Motive findet man immer. Entscheidend sind starke Motive.«
»Man findet immer welche?« Echtes Erstaunen lag in Elviras Augen.
»Ja. Wie oft haben Sie sich über jemanden aufgeregt und sich gedacht, diesen Mistkerl könnten Sie umbringen?«
»Ich habe diese Gefühle, wenn mir jemand eine Parklücke wegschnappt.«
»Dennoch haben Sie bislang keinen von den Parklückenwegschnappern ermordet, schätze ich«, sagte Katinka.
Elvira Hanf lachte.
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