Januskopf
war es der Unfall. Ein umherfliegendes Motorradteil rammte über seinem linken Ohr in den Schädel und verursachte einen beinahe taubeneigroßen Bluterguss. Er litt die ersten Tage nach dem Unfall an Sprachverlust, ähnlich wie ein Schlaganfallpatient. Das gab sich Gott sei Dank wieder, verkehrte sich aber gewissermaßen in sein Gegenteil: Er redete ohne Unterlass, und weil er merkte, dass er damit seinen Mitmenschen auf die Nerven ging, verlegte er sich aufs Schreiben. Die Wunde ist perfekt verheilt, aber das Gehirn macht Dinge, die Ewald nicht tun will. Es macht etwas mit Ewald.«
Katinka unterringelte einige Notizen.
»Ewalds Störung kann also nicht von traumatischen Ereignissen in seiner Kindheit kommen?«
»Sie denken an die Flucht aus Ungarn?« Liz Thompson schüttelte energisch die Gabel. »Nein. Die Ursache ist die Verletzung.«
»Wie kommt Dostojewski ins Spiel?«
»Er war Schläfenlappenepileptiker und zeigte deutliche Verhaltensauffälligkeiten, die man später als Dostojewski-Syndrom katalogisiert hat. Er schrieb wie ein Besessener, war emotional unbeständig, sein Gefühlsleben war durchwuchert von religiösen und philosophischen Anwandlungen.«
»Was genau bedeutet emotional unbeständig? War er aggressiv, unberechenbar?«
Dr. Thompson schüttelte den Kopf.
»Dostojewski schwankte eher zwischen Empfindungen von Untergang und Ekstase. Bis Mitte dreißig war er quasi asexuell, dann heiratete er zweimal und hatte einige Affären.«
»Dostojewski war ein großer Schriftsteller.«
»Sicher war er das!« Dr. Thompson fingerte ein Briefchen mit Zahnstochern aus ihrer Tasche. »Nur: Wenn Sie meinen, man müsste geisteskrank sein, um großartig zu werden, muss ich Sie enttäuschen. Die Vorstellung, Geisteskrankheit sei die Voraussetzung für Kreativität, stammt aus der Antike, hat sich aber als unzutreffend erwiesen. Echte Geisteskrankheit bringt in der Regel keine großen Künstler hervor. Sie quält und beschäftigt die Patienten viel zu sehr und lenkt sie von der Arbeit ab. Ein professioneller Schriftsteller oder Maler braucht Zielsetzungen, eine Ahnung vom Markt und kaufmännisches Geschick, nicht zu vergessen eiserne Disziplin. All das kann ein Geisteskranker nicht leisten.«
Katinka klopfte mit dem Stift auf ihr Notizpapier.
»Was kann man für die Dostojewski-Patienten tun?«
»Die Schädigung des Gehirns ist nicht rückgängig zu machen. Aber es gibt Psychotherapien und Medikamente, die mittlerweile genau auf den Einzelfall abgestimmt werden können. Dadurch werden die Symptome gedämpft. Heilung wie von einem Schnupfen gibt es nicht.«
Katinka sah ihren Salat an.
»Die Psychotherapie ist zu bevorzugen, oder? Immerhin hat sie keine Nebenwirkungen.«
Dr. Thompson polkte ungeniert in ihrem Gebiss herum.
»Da täuschen Sie sich aber gewaltig«, raunte sie, senkte den Zahnstocher und lächelte. »Verzeihung. Nicht sehr höflich. Ich will Ihnen etwas sagen: Misstrauen gegenüber Tabletten ist schon in Ordnung, aber verhaltensbeeinflussende Therapien können auch Nebenwirkungen haben! Vielleicht sogar schlimmere, denn sie sind nicht vorhersagbar. Bis eine Tablette auf den Markt kommt, wird auch noch die kleinste Reaktion der Testpersonen aufgezeichnet. Wir wissen, dass eine Pille Kopfschmerzen oder Schwindel hervorrufen kann. Was kann ein Gespräch mit einem Therapeuten verursachen? Eventuell einen sofortigen Selbstmord.« Sie stocherte wieder in ihren Zähnen herum und lachte dann über Katinkas ratlosen Blick. »Manche Therapien sind in Verruf geraten, weil sie teils fatale Wirkungen auf die Patienten hatten, die aber mit ihren Problemen nach der Sitzung alleine dastanden. Nur als Beispiel.«
»Ich muss eines wissen«, sagte Katinka und versuchte es wieder mit einem Stück Tomate. Die rohen Sachen stießen ihr schon vom Anschauen sauer auf. »Sie haben gesagt: Ewalds Gehirn macht etwas mit ihm. Könnte es sein, dass er einen Mord begeht?«
Der Zahnstocher splitterte. Dr. Thompson schleuderte ihn auf ihren Teller.
»Jeder kann einen Mord begehen.«
»Wäre es vom Krankheitsbild her wahrscheinlich, dass ausgerechnet Ewald einen Mord begeht?«, schärfte Katinka ihre Frage.
»Nicht wahrscheinlicher als bei jedem anderen Menschen auch. Es liegt an den Umständen: Wenn er seine Routinen hat, sein Haus und seine Beschäftigung, wenn er schreiben darf, ohne dass jemand ihn unterbricht oder kritisiert, wenn er seine Tabletten nimmt, dann ist er ruhig und ausgeglichen. Dass Ewald Isenstein
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