Januskopf
halten wollte. Katinka sah Carla vor sich. Emotionen sind ein starker Antrieb. Sie grinste.
Eine halbe Stunde später stand sie im Reformhaus in der Franz-Ludwig-Straße und traf Dr. Liz Thompson.
»Sie müssen Katinka Palfy sein. Gut, dass Sie Zeit haben. Ich esse jeden Mittag hier. Wenn man im Hotel wohnt, fehlt einem die Küche. Frau Isenstein erzählte mir übrigens, dass sie eine Detektivin angestellt hat. Was essen Sie?«
Katinka fand, dass Charlotte Isenstein allzu bereitwillig von ihren Plänen erzählte. Sie besah sich das Angebot in der Theke und wählte einen gemischten Salat mit Sesamkörnern. Dr. Thompson entschied sich für Grünkernbratlinge.
»Gehen wir hier hoch«, sagte sie und schob sich an der Kasse vorbei in den hinteren Teil des Ladens. Katinka balancierte ihren Salat vorsichtig über die Stufen. Fasziniert beobachtete sie den fröhlichen Appetit der Ärztin, der locker mit Hardos konkurrieren konnte, obwohl der sich kaum einen Grünkernbratling einverleiben würde. Die Bezeichnung ›Vollweib‹ passte exakt zu Liz Thompson. Sie hatte ein sinnliches Gesicht, volle Lippen, schwarze Wimpern. Ihre Hände waren groß wie Teller, mit langen Fingern ohne jeglichen Schmuck. Ihr runder Körper steckte in einem blauen Baumwollkleid, ein bauchiger, abgeschabter Lederbeutel diente ihr als Handtasche. Das Haar trug sie hochgesteckt, es schimmerte dezent blondiert unter dem künstlichen Licht.
»Ich habe meine Praxis nicht weit von hier«, sagte Liz. Ein Hauch von einem amerikanischen Akzent schwirrte durch ihre Worte.
»Sie sind Neurologin?«
»Und Psychiaterin. Ewald Isenstein ist ein gutes Jahr nach seinem Unfall zu mir in Behandlung gekommen. Die Familie war nicht zufrieden mit dem Arzt, den sie damals hatte.« Liz bugsierte ein großes Stück Grünkernbratling in ihren Mund. »Er hat mich vorhin angerufen und mich gebeten, Sie über seinen Zustand aufzuklären. Es liegt ihm viel daran!«
»Sie sagten, die Familie sei mit Ewalds früherem Arzt nicht zufrieden gewesen, als sei er ... ein Kind!«
»Ja. Sie haben das schon richtig interpretiert. Charlotte geht sehr fürsorglich mit ihrem Mann um.« Liz Thompson beendete ihren ersten Bratling. »Sehen Sie: Ewald lebt zum Teil in einer völlig anderen Welt. Er erachtet andere Dinge für wichtig als die Mehrheit der Menschen. Für ihn ist nur das Schreiben von Belang. Er ist wenig tauglich für Alltagsprobleme. Sicher verstehen Sie, dass ich Ihnen nicht alles über seinen Gesundheitszustand erzählen kann, aber Sie haben ihn ja schon selbst kennengelernt. Ein charmanter Gesprächspartner. Aber auch ein kranker Mann.«
»Was genau ist das Dostojewski-Syndrom?«, fragte Katinka und gabelte endlich das erste Tomatenstück auf.
»Ein hochinteressantes Phänomen«, verkündete Liz Thompson. »Auf der einen Seite sieht man als Ärztin zwar die Verwirrtheit und desolate Lage der Patienten, auf der anderen beschäftigt sich die Wissenschaftlerin mit einem gewissen«, sie sah auf den letzten halben Bratling, »Appetit mit den medizinischen Zusammenhängen. Also. Dostojewski.« Sie kramte in ihrer stattlichen Tasche nach etwas, woran sie sich die Finger abputzen konnte.
»Dostojewski litt, soweit wir das heute nachvollziehen können, an Schläfenlappenepilepsie. Epilepsie bezeichnet das chronische Auftreten von Krampfanfällen. Krampfanfälle gehen auf überbordende elektrische Impulse zwischen den Nervenzellen zurück.«
»Stop!« Katinka packte ihr Notizbuch aus. »Sie haben nichts dagegen, wenn ich mitschreibe?«
»Aber nein.« Dr. Thompson sah höchst zufrieden drein. »Kommen wir zum zweiten Teil des Wortes: Schläfenlappen. Unser menschlicher Schädel ist nicht einfach nur eine knöcherne Kugel. Die Mediziner teilen das Gehirn, genauer die Großhirnrinde, in vier Bereiche, sogenannte Lappen. Den Schläfenlappen stellen Sie sich am besten als eine Art ausgebeulten Halbkreis um ihr Ohr herum vor. Darin befindet sich das Hörzentrum, logisch, nahe am Ohr. Im linken Schläfenlappen liegt ein Teil des Sprachzentrums, in dem wir die Bedeutung der Wörter enträtseln.« Dr. Thompson wartete, damit Katinka alles aufschreiben konnte. »Der Schläfenlappen ist besonders sensibel für elektrische Reize und damit für Krampfanfälle.«
»Wie entsteht Schläfenlappenepilepsie?«, fragte Katinka begierig.
»Kann ein Geburtsfehler sein. Auch Assistenzärzte im Schichtdienst erleiden manchmal unerwartet Krampfanfälle, aus Stress und Schlafmangel. Bei Ewald
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