Jasmin - Roman
seines Bruders Chizkel. Bis heute erinnere ich mich deutlich an das Dröhnen von Schlägen, die Schreie und das Weinen von Raschel, seiner Frau, und meiner Mutter und wie sie meinen Onkel Chizkel abführten und er in ihren Kerkern verschwand. Monate des Bangens und nervenzerrüttender Ungewissheit vergingen für meinen Vater, bis er ihn im Zentralgefängnis von Bagdad fand. Trotz all seiner Bemühungen gelang es ihm nicht, ihn dort herauszuholen. Seit wir nach Israel eingewandert waren, hatte er nicht aufgehört, sich selbst dafür zu zerfleischen, dass er seinen Bruder in dem irakischen Gefängnis im Stich gelassen hatte, wo seitdem der Henkersstrick über seinem Kopf baumelte.
»Warum ist Kabi nicht hier?«, seufzte mein Vater.
»Nuri ist da«, entgegnete meine Mutter an meiner Stelle beleidigt.
»Verzeih, mein Sohn, ich wollte dich nicht kränken«, entschuldigte sich mein Vater und legte eine Hand auf meine Schulter.
Ich wusste längst, dass ich den Platz meines älteren Bruders in Vaters Herzen nicht ausfüllen konnte. Kabi sprach für meinen Vater, als er zum Arbeitsamt ging, zur Krankenkasse, im Hadassa-Krankenhaus. Im Kaffeehaus pflegten sie gemeinsam eine Wasserpfeife zu rauchen, Arrak zu trinken und sich über die jeweilige Lage zu unterhalten. Er hatte keinen anderen Freund, und seit Kabi nach Europa gefahren war, fühlte er sich einsam, trotz all meiner Anstrengungen.
»Auf das Wohl Chizkels«, sagte meine Mutter und reichte ihm in einer außerordentlichen Geste ein Gläschen Arrak und einen Teller Mandeln.
»Frau, bis ich ihn nicht mit eigenen Augen gesehen habe, werde ich es nicht glauben«, wies er das Glas zurück, als fürchtete er, sich zu früh zu freuen.
»Haben sie etwas von Raschel gesagt?«, fragte meine Mutter. Ich schüttelte den Kopf. »Was? Sie bleibt bei dem Muslimen?!«, zürnte sie, und nachdem sie sich wieder gefasst hatte, bat sie mich, ich solle sie in die Stadt bringen, zum Markt, damit sie zu Ehren des Anlasses Einkäufe machen könnte.
Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, rief ich Kabi in Europa an, die Notfallnummer, die er mir gegeben hatte, doch niemand antwortete. Ich bat seinen Kontaktmann in Tel Aviv, er solle ihm die Nachricht übermitteln, und dazwischen hörte ich Kol Israel. Der Sprecher meldete, dass ein Sprengsatz in der Jaffastraße explodiert sei.
Ich stürzte mich ins Auto und donnerte in die Innenstadt. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, meine Mutter zu suchen. In der King-George-Straße hatten sie ein Stück abgesperrt und ließen niemanden in die Nähe. Ich klapperte die Ben-Jehuda- und die Jaffastraße ab, die Haltestelle der Buslinie 4 und den Machane-Jehuda-Markt, doch ich fand sie nirgends. Wenn ich nur gewusst hätte, was sie kaufen wollte und wo! Hätten sie doch nur ein
Telefon zu Hause gehabt! Ein Staat, dessen Generäle offiziell verkündeten, dass ihre Armee bis zu den Steppen der Sowjetunion vordringen könnte, war nicht imstande, seine Bürger mit Telefonanschlüssen zu versorgen? Warum war ich nicht bei ihr geblieben, ich hätte ihr mit den Einkäufen helfen und sie zurückfahren können? Aber vielleicht war sie ja schon nach Hause gefahren. Wieder sprang ich ins Auto und donnerte los, diesmal in die entgegengesetzte Richtung, nach Katamon 6. Schweißüberströmt lief ich den halbdunklen Pfad hinauf, der zu ihrem Wohnblock führte. Ich sah sie schon von weitem, rauchend auf dem Küchenbalkon. Ich blieb einige Minuten stehen, bis ich wieder zu Atem gekommen war, und dann kehrte ich nach Hause zurück.
In einer Stunde würde ich Jasmin treffen, ihr die Arbeit zurückgeben, die sie geschrieben und zu der sie meine Meinung erbeten hatte. Ich hatte mich nicht auf mich selbst verlassen, sondern sie jemandem im Sozialamt zu lesen gegeben, und dieser hatte die Arbeit, die Scharfsinnigkeit der Verfasserin hoch gelobt.
Ich trat auf den Balkon, um Luft zu schnappen. Meine Orthodoxe rackerte sich in der Küche ab, am liebsten hätte ich zu ihr hinübergeschrien, dass mein Onkel Chizkel frei war! Gerettet! Aber wir hatten nie miteinander gesprochen, und nicht einmal ihren Namen wusste ich. Feigele? Scheindele?
Zu meiner Überraschung war der erste Satz, den Jasmin sagte, als wir uns trafen: »Haben Sie gehört, was in der Jaffastraße passiert ist? Ist alles in Ordnung bei euch?«
Sie ist ein Mensch, freute ich mich im Stillen. »Gott sei Dank«, antwortete ich, »und fragen Sie nicht, wie ich mich gesorgt habe, meine Mutter hat gerade zu der
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