Jasmin - Roman
vorhin, sog tief das Aroma ein und stieß mit einem genießerischen Seufzer den Atem wieder aus. »Wein hat eine delikate Seele«, erklärte er mir, »er braucht ein liebevolles Zuhause, die passende Temperatur, Halbdunkel. In Licht und Hitze verliert er seinen Geschmack.«
Ich trank mein Glas aus und ging ins Meer. Ich legte mich in seine salzigen Fluten, trieb regungslos, wie ein mit Teer überzogenes Beiboot im Tigris, dahin. Eine tiefe Ruhe überkam mich. Ich muss Jasmin hierher bringen, dachte ich.
Gegen Abend, gegen Ende des Schabbats, machten wir uns auf die Rückfahrt nach Jerusalem. In ihrer Wohnung in Beit Hakerem, nach der Dusche, legte Michelle die Arme um mich. Ein erfrischender Geruch nach Melone umgab sie, und im Hintergrund erhob sich die Stimme des französisch-armenischen Sängers Charles Aznavour: »Hier kamen sie, alle hörten den Schrei, sie wird sterben …«
Michelle küsste mich. »O là là! Du bist noch betrunken.«
Ich war mit meinen Gedanken bei Aznavour, ich hatte das Gefühl, dass ich in diesem Augenblick erfasste, was seinen Gesang auszeichnete. Es war dieser Ausdruck eines kummervollen Herzens, des Herzens eines Flüchtlings, der sich an einen brüchigen Zweig klammert - endlich hatte ich die Worte dafür gefunden.
»Ich hatte gestern einen seltsamen Tag mit deiner Jasmin«, drang Michelles Stimme in mein Bewusstsein, das mit Aznavour beschäftigt war. »Sie hat mich vollgequasselt mit diesem Neger, ihrem Frantz Fanon …«
»Frantz Fanon? Ah, der Intellektuelle, von dem sie sprach, als ich sie ins Jugenddorf gebracht habe«, erinnerte ich mich.
»Sie argumentiert in seinem Namen, dass ›Rassismus psychologische Strukturen erzeugt, die den schwarzen Menschen daran hindern zu sehen, wie sehr er von der pseudouniversalen weißen Norm unterjocht ist, und dass eine rassistische Kultur die psychische Gesundheit des schwarzen Menschen verhindert‹ und so weiter und so fort …«
»Was hat das mit uns zu tun?«
»Verstehst du die Analogie nicht? Es ist klar, dass sie eine Parallele zieht zwischen den Negern und den Palästinensern. In
ihren Augen sind wir rassistische und kolonialistische Weiße. Ich hab dir ja gesagt, dass deine Jasmin ein schwieriger Fall ist …«
»Genug, lass mich doch damit in Ruhe!«
Michelle erstarrte.
Ich riss mich zusammen. Was wollte ich überhaupt von ihr? »Entschuldige … ich hatte diese Woche eine schwere Auseinandersetzung mit dem Minister, und ich habe keine Kraft zu weiteren Diskussionen.«
»Irgendetwas nagt die ganze Zeit an dir«, stellte sie fest. »Grübeleien, Zweifel. Eine Revolution braucht entschlossene Menschen, keinen Prinz von Dänemark! Vielleicht ist diese Arbeit nichts für dich.«
Ich schwieg.
»Und warum hast du mich nicht zu dem Abendessen bei Abu George eingeladen?«, fragte sie mich zu meiner großen Überraschung.
»Äh … ich dachte, es sei ein langweiliges formelles Essen …«
»Nicht einmal bluffen kannst du«, konstatierte sie.
Ich erhob mich aus dem Sessel und streckte mich. Michelle interpretierte dies offenbar als Aufforderung zum Tanz und näherte sich mir. Ich fasste sie um die Hüften, ihr Körper war weich, ihr Blick träumerisch. Wir bewegten uns ein paar lustvolle Schritte, doch mir schwindelte der Kopf. »Ich muss mich setzen«, sagte ich.
»Du vergisst dich nie. Dein Gehirn ist immer unter Kontrolle, arbeitet ohne Unterlass. Willst du Kaffee?«
»Wasser. Gut, Kaffee auch«, fügte ich hinzu, um sie zu beschwichtigen.
»Deine Jasmin hat einen palästinensischen Freund in Paris, hast du das gewusst?«, fragte Michelle und musterte mein Gesicht. »Faiz heißt er. Er ist auch ein Anhänger von Fanon. Sie sagt, Faiz sei zu dem Schluss gekommen, dass unsere Eroberung das palästinensische Volk erschaffen habe und dass nur die Bauern
und die Flüchtlinge ihr Volk vom Joch des israelischen Kolonialismus befreien werden. Verstehst du?«
»Interessant, mit mir hat sie nie über diese Ideen gesprochen.«
»Sie ist raffinierter, als du denkst«, betonte Michelle und setzte sich auf meine Knie. »Du hast mir heute Abend noch keinen einzigen Kuss gegeben, und dir ist auch nicht aufgefallen, dass ich beim Friseur war«, flüsterte sie.
»Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet«, antwortete ich und legte eine Hand auf ihren Rücken.
»O ja, ja, mon amour, streichle mir den Rücken. Das tut mir gut, mehr«, und sie rollte mir das Hemd hoch und zog mich zum Bett.
Mein Kopf war schwer. Warum hatte ich so
Weitere Kostenlose Bücher