Jasmin - Roman
müssen ihren Schmerz hören, wir müssen daran denken, dass sie eine Ehre haben. Wir müssen uns auch daran erinnern, dass ein schwacher Mensch den Starken hasst und dass das Leben ein Rad ist, einmal hinauf und einmal
hinunter. Und ich habe Angst davor, dass wir einmal wieder unten sind. Wir haben eine jüdische Moral, man muss auch zu diesen Arabern gerecht sein. Churchill, der die Nazis besiegt hat, hat gesagt: ›Sei großmütig im Sieg.‹«
Jetzt herrschte Stille im Saal. Chizkel verneigte sich leicht und schickte sich an, das Podium zu verlassen. Doch plötzlich machte er kehrt und trat noch einmal ans Mikrofon: »In letzter Zeit gehe ich viel zwischen den Arabern herum, ich will sehen, wie sie sind. Eines Tages, auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem, hielt unser Autobus. Auf der Straße lag ein toter Araber, sie sagten, er sei aus Versehen getötet worden, und sein Blut rann über die Straße. Und was sehe ich, ein Beduine bringt seinen Sohn zu dem getöteten Araber und sagt zu ihm: ›Mein Sohn, vergiss dieses Blut nicht!‹«
Chizkel schwieg einen Moment, schaute ins Publikum, nahm die Seiten wieder auf und las den Schlussabsatz des Vortrags vor, den er vorbereitet hatte: »Wir waren ein verfolgtes Volk, erniedrigt und verstoßen, man hat uns verfolgt und ermordet, und ich habe Angst, dass der böse Geist, der in unserer Seele haust, seinen Kopf erhebt und Rache für die Erniedrigung unserer Väter fordert und dass auch wir uns der Sünde des Stolzes schuldig machen und mit den Arabern verfahren, wie die Gojim mit uns verfahren sind. Ich war in Jericho und Nablus, in Tulkarm und im Westjordanland, und ich habe mir die Gebiete angesehen, ein schönes, gutes und weites Land. Stimmt, es ist unser Erbbesitz, doch ein anderes Volk ist dort seit Generationen ansässig. Wie könnten wir sie vertreiben, sie und ihre Vorfahren sind dort geboren! Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen und was wir tun. Wir haben keinen anderen Ort, aber man muss auch an sie denken, wir sind nicht allein auf der Welt. Wir sollten kein Narrenschiff werden, wir müssen den Frieden schließen, um den wir immer gebetet haben.«
»Buh … Feigling …«, schrie es aus dem Publikum. »Die Araber verstehen nur Gewalt … wenn wir ihnen den kleinen Finger geben, wollen sie die ganze Hand … du redest wie die Araber …«
Ein Tumult brach im Saal aus, alles brüllte durcheinander. Der Generalsekretär versuchte, die Ordnung wiederherzustellen, während Chizkel gemessenen Schritts das Podium verließ, vor dem tobenden Saal stand und Kabi und mir ein Zeichen gab. Wir gingen mit ihm hinaus.
»Entweder bin ich verrückt − oder sie sind es«, sagte er draußen, am ganzen Leib zitternd.
40.
»SIE WOLLEN DIE MITGIFT OHNE BRAUT«
Der stellvertretende Minister rief mich bereits am nächsten Morgen an und teilte mir mit, dass für Chizkel ein Treffen mit dem Regierungsoberhaupt anberaumt worden sei, und ließ mich wie angewurzelt auf meinem Platz zurück. Zu meiner Verblüffung fügte er auch noch hinzu, dass die Beschimpfungen, mit denen Chizkel bedacht worden sei, ihn nicht abgeschreckt, sondern ihn im Gegenteil in seiner Meinung bestärkt hätten, dass die Dinge höheren Orts zu Gehör gebracht werden müssten. Sein Mut überraschte mich und rief meine Hochachtung hervor.
Als ich Chizkel davon berichtete, sah ich, wie unser Untergrundheld aufgeregt wurde wie ein kleiner Junge, wenngleich er versuchte, seine Aufregung zu verbergen.
»Der Ministerpräsident! Der Ministerpräsident!«, wiederholte er. Danach fügte er mit einem Lächeln hinzu: »Sag mal, Nuri, wollen sie mich für die Beleidigungen, die ich von der Partei eingesteckt habe, entschädigen?«
Am Eingang zum Büro des Regierungsoberhaupts glättete Chizkel die gestreifte Krawatte, die er von Kabi bekommen hatte, und zwinkerte mir lächelnd zu. Levi Eschkol, korpulent und breitschultrig, erhob sich aus dem Sessel bei seinem Eintreten. Es war nicht der Eschkol, den ich in Nazareth erlebt hatte, als ich ihn dorthin begleitete. Damals hatte er große Vitalität ausgestrahlt. Nun wirkte er auf mich wie ein Samson, dem man die Locken gestutzt hatte. Das Schnurrbärtchen, das seine Oberlippe schmückte, war ergraut, er sah alt und erschöpft aus, sein Gesicht jedoch war immer noch ansprechend.
»Schalom, gesegnet der, der die Fesseln löst«, sagte er mit seiner belegten Stimme, als er Chizkels Hand drückte. »Und seien auch Sie mir gegrüßt«, wandte er sich
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