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Jasmin - Roman

Titel: Jasmin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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glühende Lava aus seinem Mund strömten, wobei er sich vor- und zurückwiegte wie beim Gebet: »Seit dem Tag der Tempelzerstörung ist kein Tag mehr ohne Fluch …« Er holte eine prächtige Broschüre hervor mit bestechenden Tempelbildern, der erste und der zweite und auch »der dritte Tempel, der schnell in unseren Tagen errichtet werden und nicht auf die Ankunft des Messias warten wird. Endlich ist es uns vergönnt und das heilige Jerusalem ist aus den Händen der Gojim, getilgt sei ihr Name, befreit«, schloss er mit wilder Begeisterung.
    Schula schaute mich an, ratlos, und ich betrachtete den Sonderling, der sich beeilte, unsere Verwirrung zu nutzen, um in das Zimmer des Ministers zu stürmen. Schula blieb wie betäubt zurück, und der Bärtige schlug ihr mit einem triumphierenden Lächeln die Tür vor der Nase zu.
    »Ein Wahnsinniger, der glaubt, dass er jetzt den Tempel bauen wird«, stotterte sie verblüfft.
    »Der Minister hat mir von Levanas Bruder erzählt, ich gehe zu ihr«, sagte ich, und Schula bat Chaim, den Fahrer des Ministers, mich hinzubringen.
     
    Am Eingang des Hauses von Levanas Eltern in der Herzlallee hingen Traueranzeigen. Ich blieb vor der Tür stehen, zögerte, hineinzugehen. Wie tröstet man? Ich atmete tief durch und stieß die Tür auf. Das Treppenhaus war voll. Levana war überrascht, als sie mich bemerkte, und stellte mich ihren Eltern, ihrem Bruder und ihren beiden Schwestern vor, die auf einem niedrigen Bett saßen und nicht auf dem Boden, wie es bei uns üblich ist. Ich murmelte irgendetwas und setzte mich neben sie. Sie reichte mir ein Fotoalbum, aus dem mir ein dünner Junge Anfang zwanzig mit einem scheuen Lächeln wie dem ihren entgegenblickte.

    »Wie ist es passiert?«, fragte ich.
    »Nachdem schon alles vorbei war, hat jemand von der Mauer herunter auf ihn geschossen und … das war’s«, sie biss sich auf die Lippen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich holte eine Packung Zigaretten heraus und steckte sie sofort wieder in die Tasche zurück. Levana rauchte nicht, und sie mochte es auch nicht, wenn neben ihr geraucht wurde.
    »Du kannst rauchen«, sagte sie mit einer Kopfbewegung. »Hat der Minister mit dir gesprochen?«, erkundigte sie sich. Ich bedankte mich. Ich war sicher, dass sie diejenige gewesen war, die die Ernennung initiiert hatte. Ich wusste seit langem, dass sie großen Einfluss auf ihn hatte.
    »Du hast abgenommen«, sagte sie, »gönn dir ein paar Tage Ruhe.«
    »Ich hatte den Eindruck, es sei ihm wichtig, dass ich sofort anfange.«
    »Was ist da so eilig, laufen die Araber vielleicht davon?«
    Zwei Frauen kamen herein und fielen ihr um den Hals. Ihr Gesicht verzerrte sich, und sie kniff die Augen zusammen im Bemühen, die Tränen zurückzuhalten. Als sie von ihr abließen, umschloss ich ihre Hand mit meinen beiden Händen und hielt sie lange Zeit. Dann ging ich leise.
    Ich hielt ein Taxi auf und stieg am Zionplatz aus, der vor Soldaten und Reservisten wimmelte. In Gruppen hatten sie sich dort zusammengeschart. Teils schwiegen sie, teils erzählten sie lauthals Wunder und Märchengeschichten über den Krieg. Mir fiel ein, dass ich kein Geld hatte, und ich ging zur Bank. Anstelle von Ze’ev, dem lächelnden Schalterangestellten, saß ein junges Mädchen mit auftoupierter Frisur, das voll und ganz auf das Feilen ihrer Fingernägel konzentriert war.
    »Wo ist Ze’ev?«, fragte ich.
    »Auf den Golanhöhen«, erwiderte sie und fuhr mit ihrem Werk fort. Schließlich bemerkte sie die ständig länger werdende Schlange hinter mir und fragte, was ich wolle. Der Sold von der
Armee war noch nicht auf dem Konto eingegangen, die Abzahlungsrate für das Appartement hatten sie weiter abgebucht. Mir blieben 173 Lirot auf dem Konto. Ich hob sie ab und ging hinaus.
    Die Straßen waren noch belebter als sonst. Es schien, als seien der kleinen Stadt über Nacht eine Menge Menschen zugelaufen. Leute kamen und gingen, blieben bei Bekannten stehen, unterhielten sich und flüsterten miteinander, etwas Neues lag in der Luft, verwirrend, unklar, Freude und Trauer, Hoffnung und Erwartung, und auch die immerwährende alte jüdische Frage: »Was wird nun?«
    Ich wandte mich dem Platz der Stadtverwaltung am Ende der Jaffastraße zu. Der ohrenbetäubende Lärm von Presslufthämmern erschütterte die gesamte Gegend. Ich ging weiter bis zu der Betonmauer, die die Altstadt, al-Quds in ihrer Sprache, vom restlichen Jerusalem trennte. Die Mauer war spurlos verschwunden. Schweres

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