Jasmin - Roman
Mutter ein paar Legenden gehört, naive Sehnsuchtsgeschichten, die nichts enthielten, was mir die Heiligkeit unter die Haut hätte gehen lassen wie bei einem religiösen Juden, der dreimal am Tag nach Jerusalem gewandt betete, oder bei einem Bewohner der Altstadt, der in den Gassen geboren und aufgewachsen war.
Auf dem Har Hazofim, dem Dschebel Skobos in ihrer Sprache, sprach Schadmi über Jerusalem wie ein Dichter über eine geliebte Frau, sagte, die Steine der Stadt sprächen Poesie, eine Zeile über sie sei wie goldenes, weiches und zärtliches Licht. Er erzählte von den großen Moscheen, Omar und al-Aqsa, von dem Stein,
von dem aus Mohammad auf seinem Pferd al-Buraq in den Himmel aufgefahren war, und natürlich vom Tempelberg und der Klagemauer, von den prächtigen Kirchen und Jeschivas. Er erging sich in Lobpreisungen der Stadt durch die Generationen hindurch, und mehr als einmal endete er mit einem traurigen, ernüchternden Akkord: »Hier wurden die Geistesschöpfungen der Propheten und Weisen, Könige und Dichter gebündelt, die in ihr lebten, ihr unermessliche Schönheit gaben und sie zur einer messianischen Stadt machten, die die Verrückten der Welt und die Erlösungssucher magnetisch anzieht, und alle beten, doch ihre Gebete werden nicht erhört, und alle rufen nach dem Messias, doch er kommt nicht.«
Durch das Fernrohr des Nachrichtendienstes, das auf dem Dach des Krankenhauses installiert war, zeigte er uns die zwischen den Mauern verborgene Stadt. Ich sah Viertel wie in einen Schraubstock eingezwängt, ein Balkon am anderen, ein Dachrand berührte den nächsten, ein gewölbtes Sieb, das die Stadt überspannte, durchbrochen von Minarett- und Kirchtürmen. Hier und dort spitzte grüner Hahnenkamm heraus, widerspenstige Bäume und Sträucher reckten den Hals über die Häuser, während sie sich unten in die felsige Erde bohrten, alles war zusammengepfercht, eng und erstickend, auf einer Fläche von nur einem Quadratkilometer.
Innerhalb weniger Tage gewöhnte ich mich an die Geräusche, an die märchenhafte Stille, eine dörfliche Stille, die im Morgengrauen und vier weitere Male am Tag durch den Ruf des Muezzins unterbrochen wurde. Ich ging viel spazieren, entdeckte die Ostseite des Berges, die in Richtung des Toten Meeres und des Edomgebirges blickt. Wenn ich frühmorgens aufstand, sah ich die pfirsichfarbene Flamme des Sonnenaufgangs hinter den Bergen emporsteigen, und bei guter Sicht glitzerte das türkise Wasser des Toten Meeres zwischen den gelben Weiten wie ein Perlenfeld. Allmählich begann ich, mein Herz an diese Landschaft mit ihren Abhängen und Wadis zu verlieren, wie damals, als ich ein Junge
im Kibbuz war und sich mir das Jezre’eltal und der Tabor in seiner ganzen Schönheit offenbarten.
Professor Schadmi war ein schier unerschöpflicher Quell des Wissens. Nicht nur einmal erhielt ich von ihm einen kompletten Vortrag infolge einer kurzen, einfachen Bemerkung, die ich in meiner Einfalt äußerte, wie zum Beispiel: »Schade, dass die Altstadt und der Tempelberg in den Händen der Jordanier sind.«
»Aber mein lieber Nuri, die Sache liegt im Wesen, nicht im Gefäß. Auch wenn wir annähmen, der Tempelberg sei das Zentrum, das Herz, und ihn alle wollen, Muslime, Christen und Juden, stellt sich immer noch die echte Frage: Was ist das Wesen, das Herz des Ortes? Hast du je von Rabbi Jochanan ben Zakai gehört? Nein? Nun, er war einer der Schüler von Hillel dem Älteren, der ihn schon als den Größten unter ihnen betrachtete, als er noch ganz jung war, und ihn ›Vater der Weisheit und Vater für Generationen‹ nannte. Vor der Tempelzerstörung, in den Tagen der Belagerung Jerusalems, war ben Zakai, damals bereits ein alter Mann, eines der Oberhäupter des Sanhedrins, dessen Sitz in der Kammer der behauenen Steine im Tempel war. Im Gegensatz zu den Fanatikern, die bis zum Ende kämpfen wollten, komme, was wolle, wie in Massada, wusste ben Zakai, dass sie die Römer nicht besiegen könnten, und sorgte für ihr Überleben und für den Fortbestand des geistigen Zentrums. Er entwich mit Hilfe seiner Schüler aus dem belagerten Jerusalem, stellte sich dem römischen Feldherr Vespasian und bat: ›Gib mir Jabne und seine Weisheit.‹ Die Legende erzählt, dass seiner Bitte auf der Stelle stattgegeben wurde, weil dem Feldherrn vorausgesagt worden war, dass er zum Kaiser ernannt werden würde und tatsächlich damals ein Bote eintraf, der ihm die Ernennung verkündete. Du wirst fragen, warum Jabne?
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