J.D.SALINGER Neun Erzählungen
Nein. Entschuldige, aber du schuldest mir einen Dollar fünfundsechzig. Ich habe jede – «
»Ich muss nach oben und es bei meiner Mutter holen. Hat das nicht Zeit bis Montag? Ich könnte es zum Turnen mitbringen, wenn es dich glücklich macht.«
Selenas Haltung verbot jede Nachsicht.
»Nein«, sagte Ginnie. »Ich muss heute Abend ins Kino. Ich brauche es.«
Feindselig schweigend, starrten beide Mädchen aus entgegengesetzten Fenstern, bis das Taxi vor Selenas Wohnblock hielt. Dann stieg Selena, die auf der Seite zum Bordstein saß, aus. Die Taxitür gerade einen Spalt offen lassend, ging sie forsch und selbstvergessen wie eine H ollywood - Berühmtheit auf Besuch ins Gebäude. Mit hochrotem Gesicht bezahlte Ginnie den Fahrpreis. Dann raffte sie ihre Tennissachen zusammen – Schläger, Handtuch und Sonnenhut – und folgte Selena. Mit fünfzehn war Ginnie in ihren Tennisschuhen Größe 42 ungefähr eins fünfundsiebzig groß, und als sie die Eingangshalle betrat, verlieh ihr ihre befangene, gummibesohlte Staksigkeit etwas gefährlich Dilettantisches. Was Selena veranlasste, lieber die Anzeige über dem Fahrstuhl zu betrachten.
»Damit schuldest du mir jetzt einen Dollar neunzig«, sagte Ginnie, als sie zum Fahrstuhl schritt.
Selena drehte sich um. »Vielleicht interessiert es dich ja«, sagte sie, »dass meine Mutter sehr krank ist.«
»Was hat sie denn?«
»Sie hat praktisch Lungenentzündung, und wenn du glaubst, es macht mir Spaß, sie bloß wegen Geld zu stören … «
S elena sagte den unvollständigen Satz so souverän wie möglich.
Tatsächlich war Ginnie von dieser Information doch ein wenig irritiert, wie hoch ihr Wahrheitsgehalt auch war, aber nicht bis zur Sentimentalität. »Von mir hat sie sie nicht«, sagte sie und folgte Selena in den Fahrstuhl.
Nachdem Selena die Wohnungsklingel gedrückt hatte, wurden die Mädchen von einer farbigen Hausangestellten, mit der Selena offenbar nicht sprach, eingelassen oder vielmehr, die Tür wurde nach innen gezogen und blieb angelehnt. Ginnie ließ ihre Tennissachen auf einen Stuhl im Flur fallen und folgte Selena. Im Wohnzimmer drehte Selena sich um und sagte: »Macht es dir was aus, hier zu warten? Wo möglich muss ich Mutter wecken und so.«
»Okay«, sagte Ginnie und ließ sich aufs Sofa plumpsen.
»In meinem ganzen Leben hätte ich nicht geglaubt, dass du wegen etwas so kleinlich sein könntest«, sagte Selena, die gerade zornig genug war, um das Wort »kleinlich« zu gebrauchen, aber doch nicht mutig genug, um es zu betonen.
»Jetzt weißt du’s«, sagte Ginnie und schlug vor ihrer Nase eine Vogue auf. Sie hielt sie so, bis Selena aus dem Zimmer war, dann legte sie sie wieder aufs Radio. Sie betrachtete das Zimmer, stellte im Geist die Möbel um, warf Tischlampen hinaus, entfernte künstliche Blumen. Ihrer Meinung nach war es ein absolut scheußliches Zimmer – teuer, aber kitschig.
Plötzlich rief aus einem anderen Zimmer der Wohnung eine Männerstimme: »Eric ? Bist du’s?«
Ginnie nahm an, es sei Selenas Bruder, den sie noch nie gesehen hatte. Sie schlug ihre langen Beine übereinander, zog den Saum ihres Polo - Coats über die Knie und wartete.
Ein junger Mann mit Brille, im Schlafanzug und ohne Pantoffeln stürzte mit offenem Mund ins Zimmer. »Oh. Ich dachte, es ist Eric, Herrgott«, sagte er. Ohne stehen zu bleiben durchquerte er in außerordentlich schlechter Haltung das Zimmer und hielt dabei etwas an seine schmale Brust gedrückt. Er setzte sich auf das freie Ende des Sofas. »Ich habe mir gerade in den verdammten Finger geschnitten«, sagte er ziemlich erregt. Er sah Ginnie an, als hätte er erwartet, dass sie hier saß. »Hast du dir schon mal in den Finger geschnitten? Bis zum Knochen und so?«, fragte er. Seine plärrende Stimme klang richtig flehend, als könnte Ginnie ihn mit ihrer Antwort vor einer besonders einsam machenden Form von Pionierarbeit bewahren.
Ginnie starrte ihn an. »Also, nicht gerade bis auf den Knochen «, sagte sie, »aber geschnitten habe ich mich schon mal .«
E r war der komischste Junge oder Mann – schwer zu sagen, was er war – , den sie je gesehen hatte. Seine Haare waren bettzerwühlt. Er hatte einen spärlichen, blonden Zweitagebart. Und er sah – nun ja, blöd aus. »Wie hast du dich denn geschnitten?«, fragte sie.
Er starrte, den schlaffen Mund offen, auf seinen verletzten Finger. »Was?«, sagte er.
»Wie du dich geschnitten hast.«
»Verdammt, wenn ich das wüsste «, sagte er, wobei
Weitere Kostenlose Bücher