J.D.SALINGER Neun Erzählungen
meine, sie dreht durch, wenn ich dann keinen Hunger habe.«
Selenas Bruder schien diese Erklärung zu akzeptieren. Immerhin nickte er und schaute weg. Aber plötzlich drehte er sich wieder zu ihr hin. »Wie wärs mit ’nem Glas Milch?«
»Nein danke . … Trotzdem danke.«
Geistesabwesend beugte er sich vor und kratzte sich an seinem nackten Knöchel. »Wie heißt der Kerl, den sie heiratet?«, fragte er.
»Du meinst Joan?«, fragte Ginnie. »Dick Heffner.«
Selenas Bruder kratzte sich weiter am Knöchel.
»Er ist Lieutenant Commander bei der Marine«, sagte Ginnie.
»Na großartig.«
Ginnie kicherte. Sie sah zu, wie er sich am Knöchel kratzte, bis der rot war. Als er anfing, mit dem Fingernagel an einem kleineren Hautausschlag am Schienbein herumzukratzen, sah sie nicht mehr hin.
»Woher kennst du Joan?«, fragte sie. »Ich habe dich nie bei uns im Haus oder sonst wo gesehen.«
»War auch nie in eurem verdammten Haus.«
Ginnie wartete, doch nichts führte von dieser Erklärung weiter. »Woher kennst du sie also?«, fragte sie.
»Party«, sagte er.
»Von einer Party? Wann?«
»Weiß ich doch nicht. Weihnachten ’42 .«
A us der Brusttasche seines Schlafanzugs zweifingerte er eine Zigarette heraus, die aussah, als wäre darauf geschlafen worden. »Wie wär’s, wenn du mir mal die Streichhölzer da rüberschmeißt?«, sagte er. Ginnie reichte ihm eine Schachtel Streichhölzer von dem Tisch neben ihr. Er zündete seine Zigarette an, ohne sie gerade zu biegen, dann steckte er das abgebrannte Streichholz in die Schachtel zurück. Er warf den Kopf zurück, stieß langsam eine gewaltige Menge Rauch aus dem Mund und atmete ihn wieder durch die Nase ein. Derart »französisch« inhalierend, rauchte er weiter. Sehr wahrscheinlich war es nicht Teil des Sofa - Varietés eines Angebers, sondern vielmehr die persönliche, öffentlich gemachte Leistung eines jungen Mannes, der irgendwann einmal versucht haben mochte, sich linkshändig zu rasieren.
»Warum ist Joan ein Snob?«, fragte Ginnie.
»Warum? Weil sie einer ist. Woher soll ich denn wissen, warum?«
»Ja schon, ich meine aber, warum du es sagst.«
Müde wandte er sich zu ihr. »Hör mal zu. Ich habe ihr a cht verdammte Briefe geschrieben. Acht . Sie hat keinen einzigen beantwortet.«
Ginnie zögerte. »Hm, vielleicht hatte sie ja viel zu tun.«
»Ja. Viel zu tun. Dann arbeitet sie ja wie eine verdammte Wilde.«
» Musst du denn so viel fluchen?«, fragte Ginnie.
»Und ob ich das muss, verdammt.«
Ginnie kicherte. »Wie lange hast du sie überhaupt gekannt?«, fragte sie.
»Lange genug.«
»Also, ich meine, hast du sie mal angerufen oder sonst was? Ich meine, hast du sie nicht mal angerufen oder sonst was?«
»Nee.«
»Na, Mensch. Wenn du sie nie angerufen hast oder sonst – «
»Das konnte ich doch nicht, Herrgott!«
»Warum denn nicht?«, fragte Ginnie.
»War gar nicht in New York.«
»Ach! Wo denn?«
»Ich? Ohio.«
»Ach, warst du auf dem College?«
»Nö. Bin abgegangen.«
»Ach, warst du beim Militär?«
»Nö .«
M it der Zigarettenhand tippte sich Selenas Bruder links auf die Brust. »Pumpe«, sagte er.
»Dein Herz, meinst du?«, sagte Ginnie. »Was ist damit?«
»Das weiß ich doch nicht, was damit ist, verdammt. Als Kind hatte ich mal Gelenkrheumatismus. Verdammte Schmerzen im – «
»Na, solltest du da nicht lieber aufhören zu rauchen? Ich meine, solltest du denn da überhaupt rauchen und so weiter? Der Arzt hat meiner – «
»Aha, die erzählen einem viel«, sagte er.
Ginnie hielt sich noch kurz zurück. Sehr kurz. »Was hast du in Ohio gemacht?«, fragte sie.
»Ich? Hab in einer verdammten Flugzeugfabrik gearbeitet.«
»Tatsächlich?«, sagte Ginnie. »Hat es dir gefallen?«
» › Hat es dir gefallen? ‹ «, äffte er sie nach. »Es hat mir richtig gefallen. Ich bin verrückt nach Flugzeugen. Die sind so süß .«
Ginnie war jetzt viel zu involviert, um beleidigt zu sein. »Wie lange hast du da gearbeitet? In der Flugzeugfabrik.«
»Das weiß ich doch nicht, Herrgott. Siebenunddreißig Monate .«
E r stand auf und ging ans Fenster. Er schaute auf die Straße hinab und kratzte sich dabei mit dem Daumen am Rücken. »Sieh dir mal die an«, sagte er. »Verdammte Idioten.«
»Wer?«
»Das weiß ich doch nicht. Alle irgendwie.«
»Dein Finger blutet gleich noch mehr, wenn du ihn so nach unten hältst«, sagte Ginnie.
Er hörte auf sie. Er stellte den linken Fuß auf den Fenstersitz und legte die verletzte
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