J.D.SALINGER Neun Erzählungen
Classics las, mit denen Sie vielleicht vertraut sind, als Hobby verschiedene Religionen studiert. Besonders begeistert hat mich Martin Luther, der natürlich Protestant war. Bitte nehmen Sie daran keinen Anstoß. Ich empfehle keine Doktrin; dies liegt nicht in meiner Natur. Noch ein letzter Gedanke: Bitte vergessen Sie nicht, mir Ihre Besuchszeiten mitzuteilen, da ich, soweit ich weiß, an den Wochenenden frei habe und zufälligerweise an einem Samstag in Ihrer Umgebung sein k önnte. Bitte vergessen Sie auch nicht, mir mitzuteilen, ob Sie über eine ausreichende Beherrschung der französischen Sprache verfügen, da ich aufgrund meiner wechselnden und weitgehend unsensiblen Erziehung im Englischen vergleichsweise sprachlos bin.
Ich schickte den Brief und die Zeichnungen an Schwester Irma gegen halb vier morgens ab, ging dazu auf die Straße hinaus. Danach zog ich mich, buchstäblich überglücklich, mit dicken Fingern aus und fiel ins Bett.
Kurz vor dem Einschlafen drang erneut das Stöhngeräusch durch die Wand zum Schlafzimmer der Yoshotos. Ich malte mir aus, wie die beiden Yoshotos am Morgen zu mir kamen und mich baten, mich anflehten, mir ihr geheimes Problem bis zum letzten, schrecklichen Detail anzuhören. Ich sah schon genau, wie es sein würde. Ich würde mich zwischen sie an den Küchentisch setzen und ihnen beiden zuhören. Ich würde zuhören, zuhören, zuhören, den Kopf in den Händen – bis ich schließlich, außerstande, es noch länger zu ertragen, Mme. Yoshoto in den Hals greifen, ihr Herz herausziehen und es wie einen Vogel in der Hand wärmen würde. Dann, wenn alles wieder gut wäre, würde ich den Yoshotos Schwester Irmas Arbeiten zeigen, und sie würden meine Freude teilen.
Es wird einem immer viel zu spät klar, doch der ganz besondere Unterschied zwischen Glück und Freude ist, dass Glück ein fester und Freude ein flüssiger Stoff ist. Meine drang schon am folgenden Morgen durch ihren Behälter, als M. Yoshoto mit den Umschlägen von zwei neuen Schülern an meinen Schreibtisch kam. Ich arbeitete gerade an Bambi Kramers Zeichnungen, und das ganz melancholiefrei, da ich ja wusste, dass mein Brief an Schwester Irma s icher in der Post war. Doch war ich nicht einmal annähernd darauf vorbereitet, mich dem wunderlichen Umstand zu stellen, dass es auf der Welt zwei Menschen gab, die noch weniger Zeichentalent besaßen als Bambi oder R. Howard Ridgefield. Ich spürte, dass mich der Anstand verließ, und zündete mir zum ersten Mal, seit ich Teil des Lehrkörpers geworden war, im Unterrichtsraum eine Zigarette an. Das schien zu helfen, und ich wandte mich wieder Bambis Arbeit zu. Doch noch bevor ich drei, vier Züge getan hatte, spürte ich, ohne dabei auf – oder hinüberzublicken, dass M. Yoshoto mich ansah. Dann hörte ich, wie zur Bestätigung, dass sein Stuhl zurückgeschoben wurde. Wie immer erhob ich mich für ihn, als er kam. Er erklärte mir in einem blöden, aufreizenden Flüsterton, er selbst habe nichts gegen das Rauchen, aber leider beinhalteten die Schulvorschriften ein Rauchverbot im Unterrichtsraum. Er schnitt meine überschwänglichen Entschuldigungen mit einer großmütigen Handbewegung ab und ging zu seiner und Mme. Yoshotos Seite des Zimmers zurück. Wirklich panisch fragte ich mich, wie ich die folgenden dreizehn Tage bis zu dem Montag, an dem Schwester Irmas nächster Umschlag fällig war, überstehen sollte, ohne den Verstand zu verlieren.
Das war am Dienstagvormittag. Den Rest des Arbeitstages sowie alle Arbeitsabschnitte der nächsten beiden Tage verbrachte ich in fiebriger Betriebsamkeit. Ich nahm alle Zeichnungen Bambi Kramers und R. Howard Ridgefields gewissermaßen auseinander und fügte sie mit nagelneuen Teilen wieder zusammen. Ich entwarf für beide buchstäblich Dutzende beleidigender, blödsinniger, aber recht konstruktiver Zeichenübungen. Ich schrieb ihnen lange Briefe. R. Howard Ridgefield bettelte ich geradezu a n, die Satire eine Weile sein zu lassen. Bambi bat ich mit höchstem Feingefühl, vorerst keine weiteren Zeichnungen mit Titeln im Stile von »Vergib ihnen ihre Schuld« einzureichen. Dann, es war Donnerstagnachmittag, ich fühlte mich gut, war aber schreckhaft, nahm ich mir einen der beiden neuen Schüler vor, einen Amerikaner aus Bangor, Maine, der in seinem Fragebogen mit wortreicher Ehrliche – Haut – Integrität sagte, sein Lieblingskünstler sei er selbst. Er bezeichnete sich als realistischen Abstraktionisten. Was nun meine
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