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J.D.SALINGER Neun Erzählungen

Titel: J.D.SALINGER Neun Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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Briefe schrieb ich auf Französisch. Als ich damit fertig war, ging ich sogleich hinaus und warf sie ein. Die Befriedigung war kurzlebig, aber sehr, sehr gut, solange sie währte.
    Als es Zeit wurde, mich zum Abendessen in den Marsch z ur Küche einzureihen, bat ich, mich zu entschuldigen. Ich sagte, ich fühlte mich nicht wohl. (1940 log ich viel überzeugender, als dass ich die Wahrheit sagte – ich war mir daher sicher, dass M. Yoshoto mich argwöhnisch ansah, als ich sagte, ich fühlte mich nicht wohl.) Dann ging ich auf mein Zimmer und setzte mich auf ein Kissen. Dort saß ich bestimmt eine Stunde lang, starrte auf das vom Tag erhellte Loch in der Jalousie, ohne zu rauchen, die Jacke auszuziehen oder die Krawatte zu lockern. Dann erhob ich mich abrupt, holte eine große Menge meines privaten Briefpapiers und schrieb Schwester Irma einen zweiten Brief; als Schreibtisch benutzte ich den Fußboden.
    Ich habe den Brief nie abgeschickt. Die folgende Wiedergabe ist direkt vom Original abgeschrieben.
     
    Montreal, Kanada
    28. Juni 1940
     
    Liebe Schwester Irma ,
    habe ich in meinem letzten Brief an Sie unwillentlich etwas Abschätziges oder Respektloses gesagt, das die Aufmerksamkeit Pater Zimmermanns geweckt und Ihnen in irgendeiner Weise Unannehmlichkeiten bereitet hat? Sollte dies der Fall sein, so bitte ich Sie, mir wenigstens angemessen die Gelegenheit zu geben, das, was immer ich in dem Eifer, mit Ihnen Freundschaft zu schließen sowie Ihr Lehrer zu werden, unwillentlich gesagt haben mag, zurückzunehmen. Ist das zu viel verlangt? Ich glaube nicht.
    Die nackte Wahrheit ist Folgendes: Wenn Sie nicht einige weitere Grundlagen dieses Berufs erlernen, werden Sie den Rest Ihres Lebens nur eine sehr, sehr interessante Künstlerin sein, statt eine große zu werden. Meiner Ansicht nach ist das schrecklich. Erkennen Sie den Ernst der Lage?
    Es ist möglich, dass Pater Zimmermann Sie zur Aufgabe der Schule veranlasste, weil er glaubte, sie könne Sie darin beeinträchtigen, eine fähige Nonne zu werden. Sollte dies der Fall sein, kann ich nicht umhin zu sagen, dass ich dies in mehr als einer Hinsicht für sehr unbesonnen halte. Die Schule würde Sie nicht hindern, Nonne zu sein. Ich selbst lebe wie ein bösartiger Mönch. Das Schlimmste, was das Künstlerdasein Ihnen antun könnte, wäre, dass es Sie dauerhaft leicht unglücklich macht. Das aber ist meiner Ansicht nach keine tragische Situation. Der glücklichste Tag meines Lebens war vor vielen Jahren, als ich siebzehn war. Ich war auf dem Weg zum Mittagessen mit meiner Mutter, die zum ersten Mal nach langer Krankheit ausging, und ich war ekstatisch glücklich, als ich plötzlich, ich bog gerade in die Avenue Victor Hugo, das ist eine Straße in Paris, mit einem Mann zusammenstieß, der keine Nase hatte. Ich bitte Sie, diesen Faktor zu bedenken, ja, ich bitte Sie inständig. Er ist sehr bedeutungsträchtig.
    Möglich wäre auch, dass Pater Zimmermann Sie veranlasste, die Immatrikulation zu annullieren, weil es Ihrem Kloster an den Mitteln fehlt, den Unterricht zu bezahlen. Ich hoffe aufrichtig, dass dies der Fall ist, nicht nur, weil es mich erleichterte, sondern auch in praktischer Hinsicht. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, bräuchten Sie es nur zu sagen, und ich würde Ihnen meine Dienste auf unbestimmte Zeit gratis anbieten. Können wir diese Angelegenheit weiter besprechen? Darf ich Sie erneut fragen, wann Ihre Besuchstage im Kloster sind? Darf ich so frei sein, einen Besuch bei Ihnen im Kloster am kommenden Samstagnachmittag, dem 6. Juli, zwischen 15.00 und 17.00 Uhr einzuplanen, je nach Fahrplan der Züge zwischen Montreal und Toronto? Ich sehe Ihrer Antwort mit großer Ungeduld entgegen.
    Mit Hochachtung und Bewunderung und f reundlichen Grüßen
    (gezeichnet)
    Jean de Daumier – Smith
    Dozent an
    Les Amis Des Vieux Maîtres
     
    PS: In meinem letzten Brief fragte ich Sie beiläufig, ob die junge Dame in dem blauen Gewand im Vordergrund auf Ihrem religiösen Bild Maria Magdalena die Sünderin ist. Sollten Sie bisher nicht auf meinen Brief geantwortet haben, sehen Sie bitte auch weiterhin davon ab. Es ist möglich, dass ich mich geirrt habe, und zum jetzigen Zeitpunkt meines Lebens fordere ich nicht mutwillig Desillusionen heraus. Ich bin gewillt, im Ungewissen bleiben.
     
    Selbst heute, noch jetzt , neige ich dazu, bei der Erinnerung daran, dass ich zu Les Amis einen Smoking mitgebracht hatte, das Gesicht zu verziehen. Aber ich brachte eben einen mit,

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