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J.D.SALINGER Neun Erzählungen

Titel: J.D.SALINGER Neun Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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und nachdem ich meinen Brief an Schwester Irma beendet hatte, zog ich ihn an. Die ganze Angelegenheit schien danach zu schreien, dass ich mich betrank, und da ich in meinem Leben noch nie betrunken gewesen war (aus Angst, dass übermäßiges Trinken die Hand, die die Bilder malte, die die drei ersten Preise geschnappt hatten, zum Zittern brachte usw.), fühlte ich mich genötigt, mich diesem tragischen Anlass entsprechend zu kleiden.
    Die Yoshotos waren noch in der Küche, als ich nach unten schlich und im Windsor Hotel anrief – Bobbys Freundin, Mrs X, hatte es mir vor meiner Abreise aus New York empfohlen. Ich reservierte einen Tisch für eine Person, acht Uhr.
    Gegen halb acht streckte ich, geschniegelt und gestrie g elt, den Kopf aus meinem Zimmer, um zu sehen, ob einer der Yoshotos herumgeisterte. Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass sie mich in meiner Smokingjacke erblickten. Sie waren nicht zu sehen, und so eilte ich hinunter auf die Straße und hielt nach einem Taxi Ausschau. Mein Brief an Schwester Irma steckte in der Innenseite der Jacke. Ich beabsichtigte, ihn beim Essen noch einmal durchzulesen, vorzugsweise bei Kerzenlicht.
    Ich ging Straße um Straße, ohne auch nur ein Taxi zu sehen, schon gar kein leeres. Es war eine Schinderei. Der Montrealer Stadtteil Verdun war in keiner Hinsicht ein schmuckes Viertel, und ich war überzeugt, dass jeder Passant mir einen zweiten, im Grunde kritischen Blick zuwarf. Als ich endlich an dem Imbisslokal anlangte, wo ich am Montag die »Coney Island Red - Hots« verschlungen hatte, beschloss ich, meine Reservierung im Hotel Windsor schießen zu lassen. Ich ging in das Lokal, setzte mich in eine hintere Nische und bestellte, während ich die linke Hand über meine schwarze Fliege hielt, Suppe, Brötchen und schwarzen Kaffee. Ich hoffte, die anderen Gäste hielten mich für einen Kellner auf dem Weg zur Arbeit.
    Als ich bei meiner zweiten Tasse Kaffee saß, zog ich den nicht abgeschickten Brief an Schwester Irma hervor und las ihn noch einmal. Der Inhalt erschien mir ein bisschen dünn, und ich beschloss, zu Les Amis zurückzulaufen und den Brief ein wenig aufzupeppen. Auch grübelte ich über meine Pläne, Schwester Irma zu besuchen, und überlegte, ob es nicht gut wäre, meine Zugreservierungen noch am selben Abend abzuholen. Diese beiden Gedanken im Kopf – weder der eine noch der andere gaben mir den Auftrieb, den ich brauchte – , verließ ich das Imbisslokal und ging eilig zur Schule zurück.
    Ungefähr eine Viertelstunde später widerfuhr mir etwas e xtrem Ungewöhnliches. Eine Aussage, die, wie mir wohl bewusst ist, all die unerfreulichen Kennzeichen einer Zuspitzung besitzt, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Ich bin im Begriff, eine außerordentliche Erfahrung anzusprechen, eine Erfahrung, die mir noch heute als durchaus transzendent erscheint, und ich möchte nach Möglichkeit gern den Eindruck vermeiden, ich gäbe sie als einen Fall oder auch nur Grenzfall von echtem Mystizismus aus. (Alles andere wäre, meine ich, gleichbedeutend mit der Andeutung oder Behauptung, der Unterschied von spirituellen sorties beim heiligen Franz und dem durchschnittlich überdrehten Sonntags – Aussätzigenküsser sei nur vertikal.)
    In der Neun - Uhr - Dämmerung brannte, als ich mich dem Schulgebäude von der anderen Straßenseite her näherte, im Sanitätsgeschäft Licht. Zu meiner Verblüffung sah ich in der Auslage einen lebenden Menschen, eine stramme Frau von ungefähr dreißig in einem grünen, gelben und lavendelblauen Chiffonkleid. Sie wechselte an der hölzernen Schaufensterpuppe das Bruchband aus. Als ich herantrat, hatte die Frau offensichtlich gerade erst das alte Bruchband abgenommen; es steckte unter ihrem linken Arm (mir war ihr rechtes »Profil« zugekehrt), und sie war nun im Begriff, das neue an der Puppe festzuschnüren. Fasziniert sah ich ihr dabei zu, bis sie jäh spürte und dann sah, dass sie beobachtet wurde. Rasch lächelte ich – um ihr zu zeigen, dass das in dem Smoking im Dämmerlicht auf der anderen Seite der Scheibe eine nichtfeindliche Gestalt war – , doch es half nichts. Die Verwirrung der Frau überstieg jedes normale Maß. Sie errötete, sie ließ das abgenommene Bruchband fallen, sie machte einen Schritt zurück in einen Stapel Spülschalen – und dann knickten die Füße unter ihr weg. Sogleich wollte ich nach ihr greifen und prallte mit den Fingerspitzen gegen das Glas. Sie l andete hart auf dem Hintern, wie eine

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