Je länger, je lieber - Roman
Ihrer Großmutter schlägt das Herz eines jungen Mädchens, aber …« Doktor Felsenstein zog seine Stirn dramatisch kraus und hob dazu den Zeigefinger.
»Ja?« Mimi starrte auf die Röntgenaufnahme, immer noch bemüht, in diesen Grauschleiern Claras Herz zu erkennen. Es war seltsam, einen Blick in ihr Inneres zu werfen. Beinahe ein wenig ungehörig.
»Aber …«, fuhr der Arzt fort und wippte auf seinen Fußballen auf und ab, »… ihr Herz weist eine höchst eigenartige Verletzung auf. Als wäre es im wahrsten Sinn des Wortes gebrochen.« Um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen, vollführte er eine klappende Bewegung mit seinen Händen. »Ich kann Ihnen versichern, so etwas habe ich während meiner gesamten Karriere noch nicht gesehen, und auch in der einschlägigen Fachliteratur habe ich nichts Vergleichbares finden können.«
Mimi trat näher heran. »Sie meinen ›gebrochen‹, wie ›durchgebrochen‹? Ich dachte, das mit dem gebrochenen Herzen ist nur ein geflügeltes Wort für Leute, die unter Liebeskummer leiden.«
»Tja. Das dachte ich auch. Aber das Herz Ihrer Großmutter sagt uns etwas anderes. Mit dieser Verletzung, die ihr Herz erlitten hat, ist es normalerweise unmöglich, derart alt zu werden.«
»Aha.« Mimi starrte den Mediziner ungläubig an. »Wann wurde ihr diese Wunde denn zugefügt?«
Doktor Felsenstein zuckte ratlos mit den Schultern. »Das kann Ihre Großmutter letztlich nur selber sagen. Wenn ich etwas vermuten dürfte, so würde ich sagen, sie wurde ihr ungefähr in dem Alter beigebracht, das ihr Herz heute augenscheinlich noch immer hat.«
»Und wann sollte das gewesen sein?« Das alles klang so unwirklich.
»Wie ich schon sagte: als junges Mädchen.«
»Meines Wissens hatte sie nie einen Unfall oder so etwas.«
»Die Wunde wurde auch nicht durch einen Gegenstand verursacht, so viel steht fest. Es wurden keine äußeren Narben festgestellt. Genauso wenig wie am Herzen selbst. Obwohl diese Verletzung schon so alt ist, ist sie nie verheilt. Ihr Körper scheint sich mit dieser Wunde arrangiert zu haben. Allein die Schmerzen zu unterdrücken, muss ihn einige Kraft gekostet haben. Doch nun …«
»Ja?«, fragte Mimi, und sah den Arzt tapfer an. Sie ahnte, was jetzt kam.
»Nun hat sie offenbar keine Möglichkeit mehr, den Schmerz zu ignorieren. Was mich nicht wundert. Ihre Großmutter ist beinahe hundert Jahre alt. Das Unterdrücken dieses Schmerzes hat ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht.«
Mimi nickte. »Und Sie haben überhaupt keine Ah nung, was man gegen ihr Leiden tun kann? Verstehe ich Sie da richtig?« Ohne Vorwarnung rutschte eine Träne über ihre Wange. Es erschütterte sie, dass sie von dieser Verletzung all die Jahre nichts geahnt hatte. Hätte sie etwas bemerken können? War sie nicht aufmerksam genug gewesen? Sie schluckte trocken. Sie würde nicht weinen. Nicht hier in diesem trostlosen Raum. Nicht vor diesem Arzt.
»Wir haben sie zur Erholung in ein künstliches Koma versetzt. So hat Ihre Großmutter keine Schmerzen, und wir gewinnen etwas Zeit, bis wir mehr wissen.« Der Mediziner schaltete den Lichtkasten ab und steckte seine Hände in die Kitteltaschen. »Offen gesprochen: Das, was wir hier haben, ist wirklich außergewöhnlich.« Er sah Mimi in einer Mischung aus tiefem Mitleid und heller Begeisterung an.
Sie atmete tief ein. »Wie … wie kann es denn zu so einer Verletzung kommen? So etwas geschieht doch nicht von selbst? Ich meine, können Sie sich nicht einfach getäuscht haben? Vielleicht ist Ihr Röntgengerät kaputt. Haben Sie das mal überprüft?«
»Ich verstehe Ihre Aufregung. Mir ging es im ersten Moment ganz genauso. Wir wissen einfach noch zu wenig. Vielleicht wurde Ihrer Großmutter in ihrer Jugend tatsächlich einmal von jemandem, den sie sehr geliebt hat, das Herz gebrochen, und über diesen Verlust ist sie bis heute nicht hinweggekommen. Das klingt zwar unmedizinisch und eher poetisch, aber eine bessere Erklärung habe ich gerade auch nicht parat.«
Mimi schüttelte den Kopf. »Meiner Großmutter wurde nie das Herz gebrochen. Sie hat ihre große Liebe geheiratet und war glücklich mit ihrem Mann bis zu dessen Tod. Sie ist …« Mimi lächelte verlegen. »Was das anbelangt, ist sie mein großes Vorbild.«
Doktor Felsenstein warf Mimi einen prüfenden Blick zu, als wollte er herausfinden, wie viel er ihr zumuten konnte. »Nun ja, manchmal erscheinen uns die Dinge anders, als sie tatsächlich sind. Vielleicht gibt es in der
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