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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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gleiten. Die Zeilen, die sie hier las, rüttelten sie auf eine seltsam schmerzhafte Art wach. Irgendwo auf dieser Welt litt ein Mann, genauso wie Clara litt. Oder lebte Jacques nicht mehr? Sie musste es herausfinden! Wenn sie doch nur ein einziges Mal in ihrem Leben eine derart anhaltende Leidenschaft verspürt hätte! Wo war sie all die Jahre gewesen? Wo war sie mit ihren Gedanken, Gefühlen und Sehnsüchten gewesen? Ihr Pflichtbewusstsein. Ihre Arbeitswut. Ihr zwanghaftes Bedürfnis, die Galerie am Laufen zu halten, um zu beweisen, dass sie das Andenken ihrer Eltern achtete. Die Anstrengung, jederzeit das tapfere Kind ihrer toten Eltern zu sein, hatte sie zu einem funktionierenden Roboter gemacht, der den Blick für die Schönheit der kleinen Dinge verloren hatte. Sie war in der Weltgeschichte herumgeflogen, hatte bedeutende Ausstellungen eröffnet, selbst hässliche Kunstwerke zu Höchstpreisen verkauft und ihrem bedeutenden Mann die bedeutenden Socken hinterhergetragen. Und nun saß sie hier, in diesem morschen Kahn, der all die Jahre am Ufer gelegen und darauf gewartet hatte, dass sie ihn einfach nur ins Wasser schubste, um hineinzuspringen, in die Stille des Sees, und sich dort selbst zu begegnen. Sie hatte Jahre verbracht, ohne des eigenen Daseins gewahr zu werden. Was war das für ein Verbrechen am Leben selbst! Hier hatten sich zwei Menschen auf so unbeschreibliche Weise geliebt, und sie war nicht einmal fähig, aus vollem Herzen zu weinen, wenn ihr Mann sie betrog!
    Mimi atmete tief ein. Hatte sie René überhaupt je so geliebt, wie sich Jacques und ihre Großmutter geliebt hatten? Sie presste die Lippen zusammen. Ja! Das hatte sie. Und es hatte ihr Angst gemacht, dass sie dieses überwältigende Gefühl schnell wieder unterdrückt hatte. Es hatte ihr Angst gemacht, ihn zu verlieren. Genau wie ihre Eltern, die eines Morgens zu einer Geschäftsreise nach Kanada aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt waren. Die Fluggesellschaft hatte Leute in einem dunklen Wagen vorbeigeschickt, um ihnen die schreckliche Nachricht zu überbringen. Clara hatte sich mit ihnen kurz an der Tür unterhalten und war anschließend zurück in den Salon gekommen, wo Mimi auf dem Sofa gesessen und aus dem Fenster zum dunklen Auto gesehen hatte. Ihre Großmutter hatte sich wieder zu ihr gesetzt, das Fotoalbum zugeklappt, das sie sich gerade gemeinsam angesehen hatten, und ganz ruhig gesagt: »Mama und Papa sind mit dem Flugzeug abgestürzt.« Dieser Satz hatte gereicht, um sich für Stunden an der Bedeutung dieser paar Worte die Zähne auszubeißen. Danach hatte Mimi sich zu ihrer eigenen Sicherheit dazu entschlossen, nie wieder ein tiefes Gefühl für jemanden zuzulassen.
    Am liebsten hätte sie laut »So ein Unsinn!« geschrien. Aber das wollte sie der Stille nicht antun. Stattdessen zog sie die letzte Karte hervor. Es war nie zu spät. Oder? Nie zu spät, es anders zu machen, es besser zu machen. Sie hatte in ihrem Leben genug erreicht. Sie hatte die Galerie durch schwere Zeiten gebracht. Ihre Eltern waren nicht umsonst gestorben. Sie hatten etwas hinterlassen, das von ihrer Tochter tüchtig und zäh erhalten wurde. Dabei hatte Mimi als junges Mädchen noch überhaupt keine Ahnung davon gehabt, wie man eine so bedeutende Galerie führte. Sie hatte es mit Claras Hilfe einfach getan. Aber waren die Räume, die Bilder, das Geschäft denn das Einzige, das ihre Eltern ihr mitgegeben hatten? Hätten sie selbst das so gesehen? Oder hätten sie gesagt, mein Herz, das sind doch erst einmal nur Dinge?
    Mimi würde die Liebe in ihr Leben zurückholen. Wenn es schon für ihre eigene zu spät war, dann wenigstens die Liebe ihrer Großmutter. Was für eine Ironie, dass es ihr im Moment leichter zu sein schien, die Liebe einer Frau zu retten, die fast hundert Jahre alt war, als die einer Frau Mitte dreißig. Sie würde Clara beweisen, dass es nie zu spät war. Daran wollte Mimi glauben. Wenn auf dieser letzten Karte kein Hinweis auf Jacques zu finden war, würde sie nach Claras Tagebüchern suchen, bis sie fündig wurde. Auch wenn es ewig dauerte. Es war nie zu spät. »Bitte!«, flüsterte Mimi, »bitte, gib mir ei nen kleinen Hinweis.«
    Ich flehe Dich an. Erlöse mich, Jacques (Barreto)
    »Jacques Barreto«, flüsterte sie gedankenverloren. So hieß er also mit vollem Namen. Ohne dass Mimi es bemerkte, hatten sich über ihr dichte Wolken zusammengebraut, die jetzt brüllend gegeneinanderprallten. Ohrenbetäubendes Donnern grollte heran und

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