Je länger, je lieber - Roman
hatte, durchaus ein paar freie Tage zustanden. Aber die Vorstellung, dass die Outdoorfanatikerin Alice bei diesem Wetter im Keller allein das umfangreiche Archiv durchforstete, machte ihr doch ein schlechtes Gewissen. Morgen würde sie einen Abstecher in die Galerie machen und diese Knochenarbeit auf den Herbst verschieben. Das war doch Wahnsinn, im Sommer unten im Keller zu hocken! Bis vor Kurzem hätte Mimi das nichts ausgemacht. Sie hätte vielleicht nicht mal bemerkt, dass die Sonne schien. Seltsam, wie wenig sie ihre Umwelt zuletzt wahrgenommen hatte. Das Licht. Die Menschen. Ihre eigenen Bedürfnisse. Nun kam es ihr wie das größte Glück vor, hier im Kahn zu sitzen, mit einem Haufen alter Postkarten. Über siebzig Jahre war es her, dass Jacques diese Karten an ihre Großmutter geschrieben hatte. Ein ganzes Leben. Mimi zog das Ruder in das schwankende Boot, setzte sich ihre Sonnenbrille auf und begann zu lesen.
Geliebte Goldblüte, es bläst ein starker Wind, der die Gischt gegen die Felsen treibt. Das ganze Meer wächst und hat keine Form mehr. Du schläfst zweitausend Kilometer entfernt friedlich in Deinem fernen Waldparadies, zu dem ich nie vorgedrungen bin. Aber ich höre durch die Ritzen der Fensterläden das Laub rascheln und die Vögel singen. Ich vermisse Dich. Heirate mich! Ich liebe Dich, Jacques
Trotz der Hitze überzog Mimis Arme eine feine Gänsehaut. Was für zärtliche Worte! Wer war dieser Mann? Warum hatte Clara nie von ihm erzählt? Warum hatte sie nicht ihn, sondern Gustav geheiratet? Was war passiert? Würde Mimi in diesen Karten einen Hinweis auf das Geschehene finden, das ihre Großmutter bis heute nicht losließ? Nur jemand, der solche Worte schrieb, hatte auch die Kraft, Liebe in ihr Gegenteil zu verwandeln und furchtbaren Schmerz zu verursachen. Eilig schob sie die erste Karte unter den Stapel und drehte die zweite Karte um.
Goldblüte, der Bürgerkrieg ist spurlos an Cadaques vorbeigezogen, wie die Zeit spurlos an meiner Liebe zu Dir vorbeizieht. Beide haben keinen Schaden genommen. Ich vermisse Dich. Warum nur darf mich Dein kleiner, goldener Kompass nicht zu Dir führen, damit ich Dir meine Liebe endlich in einem mit Diamanten besetzten Kästchen überreichen kann? Dein Jacques
Mimi ließ die Karten zurück in ihren Schoß sinken. Wie frisch die Sehnsucht nach all den Jahren noch immer wirkte! Wenn dieser Jacques doch wenigstens mit seinem vollen Namen unterschrieben hätte! Mimi lächelte. Das tat wohl kein Liebender. Was hatte Clara gehindert, ihn zu erhören? War sie damals schon mit Gustav zusammen gewesen? Soweit Mimi wusste, hatten er und Clara erst 1940 geheiratet. Also ein Jahr später, nachdem diese Karten angekommen waren. Wieso das? Durfte sie sich das überhaupt fragen? Grenzte das nicht an Undankbarkeit, dieses Bedauern, dass sich hier zwei Liebende nicht gefunden hatten? Denn ohne ihren Großvater hätte es ihren Vater und auch Mimi nie gegeben. Die nächste Karte war sehr kurz und in unsauberer Schrift, mit ein paar Tintenklecksen verfasst.
Goldblüte, Du musst mir vertrauen und meine Feigheit verzeihen, die uns in die Hölle geschickt hat. Meine Geliebte, kannst Du gütig sein und meine Hilflosigkeit erkennen? Du musst Dich daran erinnern, wie sehr wir uns lieben. Ich bin Du, und Du bist ich. Ich sitze im Schatten der Olivenbäume. Bitte vergiss das nicht. Jacques
Mimi fröstelte. Hier war etwas vorgefallen. Etwas Furchtbares. Nur was? Hatte Clara überhaupt jemals mit einem anderen Menschen darüber geredet? Oder war sie die Einzige, die wusste, was damals geschehen war? Hatte Jacques sich jemandem anvertraut? Wenn ja, wem? Wer wusste von all dem? Lebte dieser Jemand noch? War Margarete wirklich ahnungslos? Warum gab sie sich so bedeckt? Was hatte Clara Mimi neulich Nacht erzählen wollen, als sie nach ihrem Kompass verlangt hatte, von dem Jacques hier schrieb? Dass sie nach über siebzig Jahren noch immer auf diesen Mann wartete? War es das, was ihr Herz daran hinderte zu heilen? War es Mimis Aufgabe, diesen Mann zu finden und ihn nach Waldblütenhain zu bringen, um ihre Großmutter von den immer schlimmer werdenden Schmerzen zu befreien? Mimi drehte die nächste Karte um.
Goldblüte, ich brauche Dich wie die Trauben den Sommer. Wie geheimnisvoll, dass diese Liebe niemals sterben will. Und nun habe ich gelernt, ewig auf Dich zu warten. Ich liebe Dich, Jacques
Mimi ließ ihren Blick über die stille Oberfläche des Sees bis hinüber zum bewaldeten Ufer
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