Je länger, je lieber - Roman
draufgehabt hatte. Mimi selbst hatte sie nach Gustavs Tod nur noch selten zeichnen oder malen sehen. Schließlich klappte sie den Hefter wieder zu und sah Alice entschlossen an. »Lass uns das hier auf den Herbst verschieben. Draußen ist so schöne Sonne, hab ich gedacht.«
Alice zog die Augenbrauen hoch. »Okay?! Dann packe ich die Ordner also wieder zurück in die Regale?« Sie lächelte bittersüß, und doch kehrte in ihr Gesicht ein wenig Röte zurück, als wäre sie wirklich erleichtert, hier nicht länger die Tage unter der Erde fristen zu müssen.
Mimi half ihr dabei, die schweren Hefter zusammenzuräumen und wegzustellen. Sie seufzte. »Ich weiß, das wirkt etwas unkoordiniert, aber ich schätze, dass das hier gerade gar nicht so wichtig ist …«
Alice grinste. »Schön, dass dir das auch aufgefallen ist. Ich dachte schon, du kriegst in deiner Situation gar nichts mehr mit. Wie geht es deiner Großmutter?«
»Unverändert. Ich fahre nachher noch mal ins Krankenhaus. Vielleicht haben die Ärzte inzwischen etwas Licht ins Dunkel bringen können.« Dass Mimi sich den Tag damit um die Ohren geschlagen hatte, einen verschollenen Mann zu suchen, der womöglich Schuld am Zustand ihrer Großmutter hatte, behielt sie besser für sich. Hinterher hielt Alice sie für nur noch durchgedrehter. Ihre Assistentin war eben mehr der pragmatische Frauentyp, der in die Hände spuckte und Unangenehmes abhakte, indem sie bei einer Mountainbike-Ralley mitmachte oder eine Extremklettertour unternahm. Gerade als Mimi den nächsten Ordner ins Fach schieben wollte, fiel ihr die Beschriftung ins Auge. Dort stand das Sterbejahr ihrer Eltern. »1993.« Ihr Herz klopfte. Es war, als bekäme sie für einen Augenblick kaum Luft. Am liebsten hätte sie den Ordner schnell zurückgestellt und sofort vergessen. Doch er schien ihr geradezu in der Hand zu kleben. Hinten im Raum griff sich Alice zwei der prall gefüllten Müllsäcke. »Die bringe ich mal eben auf den Hof raus. Bin gleich zurück.«
»Danke dir« Ohne aufzublicken, ließ Mimi sich mit dem Ordner auf den Stuhl sinken. Erst mal war es nur ein Ordner, nichts Weltbewegendes. Und doch hatte sie das Gefühl, als wären ihre Eltern in all den Klarsichthüllen enthalten. Hier drin befand sich ihre getane Arbeit, kurz bevor sie ums Leben gekommen waren.
Lauter abgeheftete Faxe, die sie Käufern in Amerika und Spanien geschrieben hatten. Kopierte Briefe an Künstler, mit denen sie Ausstellungen planten. Immer von beiden unterschrieben. »Larissa und Jakob.«
Eine Träne tropfte auf ein zwanzig Jahre altes Fax. Irgendein unbedeutendes Fax, von denen sie damals so viele geschrieben hatten. »Larissa und Jakob.«
Eilig wischte sich Mimi mit dem Handballen über die feuchten Augen. Auch wenn sie beinahe alle Erinnerungen an die damalige Zeit verdrängt hatte, vermisste sie ihre Eltern noch immer. Vielleicht sogar genau deshalb. Jetzt war ihr, als wären sie gerade erst aus ihrem Leben verschwunden. Heilte denn die Zeit überhaupt keine Wunden? Wie Claras Wunde, die noch so frisch war wie vor siebzig Jahren. War das normal? Erging das nur denjenigen so, die sich weigerten, den erlittenen Verlust anzuerkennen? Oder denjenigen, die sich überhaupt anderen Menschen hingaben? Aber was blieb einem Kind denn anderes übrig, als die eigenen Eltern bedingungslos zu lieben? Als Erwachsener hatte man immerhin die Wahl und konnte dafür sorgen, dass niemand einem etwas bedeutete. Doch was dabei herauskam, spürte Mimi gerade am eigenen Leib. Grenzenlose Einsamkeit. War das die Lösung? Und falls nein, was war dann die Alternative?
Oben in der rechten Ecke des abgehefteten Papiers stand das Datum: » 15. Juni 1993.« Mimi starrte darauf. Fünf Tage vor ihrem Absturz. Sie ließ den Blick weiter hinuntergleiten. Das Fax war nach Dotty’s Cove in Neuschottland gegangen. An einen … einen »Jacques Barreto«. Das war doch nicht möglich! Sie sah noch einmal ganz genau hin. Da stand er. Sein Name! Jacques Barreto. War das Zufall? Hatten ihre Eltern die letzte Reise ihres Lebens tatsächlich zu ihm angetreten? Was hatten sie von ihm gewollt? Das Gleiche wie Mimi? Hatte Clara sie zu ihm geschickt, weil sie ihn hatte wiedersehen wollen? Trug sie am Ende Schuld am Tod ihres Sohnes und seiner Frau? War das der Grund, warum Margarete gestern Morgen in der Küche so getan hatte, als hätte sie noch nie etwas von Jacques gehört? Um Clara zu schützen?
Mimi überflog die wenigen, mit Maschine geschriebenen
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