Je länger, je lieber - Roman
Zeilen, die lediglich die Ankunft ihrer Eltern in Halifax ankündigten, die Uhrzeit, zu der sie in Dotty’s Cove ankommen würden, und den Ort, an dem sie Jacques treffen wollten. Im Nor-Western-Hummer-Restaurant.
»In Vorfreude, Larissa und Jakob.«
Mit zitternden Fingern öffnete Mimi die Ordnerklammern und nahm das Fax heraus. Vielleicht befand sich Jacques’ Adresse in der Kundendatei der Galerie, die sie vor fünf Jahren digitalisiert hatte. Über Wochen hatte sie in Nachtschichten all die Kunden, Sammler und Künstler eingegeben, die ihre Urgroßeltern, später ihre Großmutter und schließlich ihre Eltern noch handschriftlich auf Karteikarten notiert hatten. Es waren Hunderte von Namen gewesen, sodass sie sich jetzt nicht sofort an einen Jacques erinnern konnte. Sie würde gleich oben in der Galerie im Computer nachsehen. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Alice war wieder heruntergekommen. Eilig klappte Mimi den Ordner zu und ließ das gefaltete Fax in ihrer Handtasche verschwinden. Sie lächelte ihre Assistentin an. »Wollen wir ein Eis essen gehen?«
Im Eiscafé bestellte sich Mimi einen Dolce-Vita-Eisbecher für zwei Personen, der mit bunten Papierschirmchen und rosa Herzen verziert war. Ein Becher für Verliebte oder Ausgehungerte. Doch bevor sie ihn allein vertilgte, verschwand sie noch einmal kurz auf der Toilette, um René ungestört zurückzurufen. Immerhin war er gestern Abend in der Galerie aufgetaucht und hatte sich nach ihr erkundigt. Mimi betete, dass er nicht nur mit ihr das Aufteilen ihrer Sachen besprechen wollte, die sie sich über die Jahre angeschafft hatten, um sich ein wohnliches Heim einzurichten. Es tutete. Gleich würde sie seine Stimme hören. Sie würde ganz ruhig bleiben. Am anderen Ende der Leitung raschelte es. Sie hörte es stöhnen. Dann die verärgerte Stimme ihres Mannes: »Verdammter Mi…« Dann war die Leitung tot.
Mimi starrte auf ihr Telefon. Hatte sie René eben beim Sex mit der rothaarigen Frau gestört? Sie durfte nicht hyperventilieren. Sie musste ganz entspannt bleiben. Erst einmal tief einatmen. Bestimmt saß er in einer Besprechung. Ganz harmlos. Hilflos drückte Mimi auf die Toilettenspülung, als könnte sie so die aufkommenden Bilder wegschwemmen. Als ihr Herz nicht mehr Salti schlug, wankte sie zurück auf die sonnige Terrasse zu Alice, die sorgenvoll dem Dolce-Vita-Eisbecher beim Schmelzen zusah. »Geht es dir gut?«
»Jep!«, antwortete Mimi knapp, setzte sich an den Tisch und löffelte lustlos das flüssige Eis aus. Sie wollte nur noch weg, bevor Alice ihr unangenehme Fragen stellte.
Am späten Nachmittag, als Mimi durch das schmiedeeiserne Tor auf das Haus ihrer Großmutter zufuhr, stand auf dem Rondell ein fremdes Auto. Sie rollte über den sandigen Vorplatz an dem dunklen Wagen vorbei hinter das Haus. Nach Waldblütenhain kam eigentlich nie Besuch. Musste sie sich wappnen? War das der Bote, der ihr die Nachricht vom Tod ihrer Großmutter brachte, so wie es damals ein dunkler Wagen gewesen war, der die Nachricht vom Absturz ihrer Eltern gebracht hatte? Mimi umklammerte das Lenkrad. Ihre Großmutter musste noch durchhalten, bis sie Jacques Barreto gefunden hatte.
Sie parkte vor der Garage unter dem Carport und stieß mit einem Seufzer die Wagentür auf. In ein paar Augenblicken würde sie wissen, was dieser Wagen zu bedeuten hatte.
»Na, dann.«
Sie stieg in die herrliche Frühabendluft aus. In den Apfelbäumen zwitscherten die Amseln. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Dabei war die Obstwiese seit Ewigkeiten nicht mehr gemäht worden. Mimi ging auf die offene Wintergartentür zu. Gerade als sie über die Schwelle treten wollte, entdeckte sie ein paar ausgetretene Männerturnschuhe auf den Stufen. Unwillkürlich musste sie grinsen. Natürlich! Der Wagen gehörte Bruno! Solche Turnschuhe hatte er damals schon getragen. Margarete musste ihm Bescheid gegeben haben, dass Mimi für einige Zeit im Haus wohnte. Um ihn herzulocken. Bestimmt saßen sie gemeinsam in der Küche und warteten auf Mimis Ankunft. Aber nach dem missglückten Telefonat mit René war ihr jetzt nicht nach einer ungezwungenen Unterhaltung zumute. Dazu war sie zu aufgewühlt. Sie wollte sich verkriechen, anstatt so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung.
Also machte Mimi kehrt und lief unter den Obstbäumen hindurch, am Bachlauf entlang, Richtung Räuberhöhle, die sie damals als Kinder zu dritt gebaut hatten. Die Mücken sirrten. Das Wasser plätscherte leise. Die Äste
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