Je länger, je lieber - Roman
in diese Lage gebracht hatte, als er einst Casados Hilfe angenommen hatte. Er war daran zerbrochen. Nun war es Jacques’ Aufgabe, mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft Frieden zu schließen und sein erzwungenes Schicksal als Darias Mann anzunehmen. Auch wenn die Sehnsucht nach dem blond gelockten Mädchen, mit dem er sich noch immer innige Briefe schrieb, nie schwächer geworden war. Er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Er konnte ihr nicht das Herz brechen. Sie war doch noch so jung, so ahnungslos. Sollte sie denn den gleichen Tod sterben, den er bereits vor fünf Jahren gestorben war?
Jacques faltete die Hände und trat dichter an den Sarg heran. Er sah das sonnengegerbte Gesicht seines Vaters. Der Ausdruck unendlichen Muts und wilder Entschlossenheit hatte ihn bis über den Tod hinaus nicht verlassen. Und doch war diesem Mann anzusehen, dass er nicht schlief, dass er nicht zurückkehren würde.
Sein Vater war tot. Hätte Jacques es darauf angelegt, wäre er jetzt frei gewesen. Warum lief er nicht einfach zum Hafen hinunter und sprang aufs nächste Schiff, verließ Daria und den kleinen Pedro, um vor Clara niederzuknien? Er steckte seine Hand in die Anzugtasche und umfasste das hölzerne Kästchen, das darin verborgen war. Claras goldener Kompass. Der Wegweiser, der ihn zu ihr bringen sollte. In ihr Paradies, das sie in all ihren Briefen so lebendig beschrieb. Ihre Worte klangen selbst wie ein Gebet:
Jacques! Mein Garten ist verwildert. Ungestüm. Er ist wie meine Liebe zu Dir! Sie summt und surrt und plätschert und gurrt. Sie rankt sich um alles, sie streckt ihre Äste, Zweige und Triebe nach Dir aus, sie dehnt sich Tag für Tag ins Unermessliche, um Dich zu mir, über die Meere, in mein Paradies zu holen. Ich wünschte, Du könntest es sehen! Ich liebe Dich. Ich vermisse Dich, Geliebter.
Eine Träne kullerte über Jacques’ Wange und zerrann salzig in seinem Mundwinkel. Es war unmöglich zu verschwinden. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Ohne sich umzudrehen, wusste er, es war seine Mutter Mirabella. Ihr zartes Flüstern mit leicht französischem Akzent schob sich wie Sonnenstrahlen durch die gewaltigen Orgelklänge, die schwer und dröhnend über ihren Köpfen hingen, wie ein unheimliches Gewitter. »Komm, mein Sohn«, flüsterte sie. »Komm zu deiner Frau und deinem Sohn. Sie brauchen dich jetzt.«
Jacques drehte sich um und sah in das Gesicht seiner geliebten Mutter, das von einem schwarzen, gehäkelten Tuch umrahmt wurde. Sie wagte ein feines Lächeln und griff nach seiner Hand. »Komm!« Sie zog ihn mit sich zu den Holzbänken, auf denen die Trauergäste Platz genommen hatten. In der ersten Reihe saßen sie, Daria und sein vierjähriger Sohn Pedro. Er küsste seine Frau auf die Stirn, die ihr von Schmerz erfülltes Gesicht mit einem schwarzen Schleier verhüllte. Er strich Pedro, der ihn mit seinen dunklen, melancholischen Augen ansah, über den blonden Kopf und hob ihn auf seinen Schoß. »Komm her, mein kleiner Fels.«
Er drückte den schmächtigen Körper fest an seine Brust und hielt ihn, so wie sein Vater ihn stets gehalten hatte. Jacques spürte diesen zarten Körper atmen. Voller Vertrauen, als wäre er ganz in Sicherheit. Als könne ihm diese väte rliche Geborgenheit nie genommen werden. Nur ein Kind glaubte daran, dass das Gute ewig währt. Bis es aus dieser Verzauberung erwachte. Er küsste das weiche Haar und flüsterte: »Ich werde dich nie verlassen, mein Sohn. Solange ich lebe.« Er hatte Daria und diesem kleinen Jungen ein Versprechen gegeben.
17
Waldblütenhain, 2013
Die Flügeltüren zum Garten standen offen, die laue Sommerabendluft strömte zu Mimi und Bruno in den Wintergarten hinein. Durch die Zweige der Apfelbäume sahen sie weit hinten, am Ende des Gartens, das Licht im Gesindehaus, wo Margarete darauf wartete, dass ihr Sohn sich von ihr verabschiedete, bevor er wieder davonfuhr. Mimi sah Bruno von der Seite an, während er Wein einschenkte. Schließlich blickte er auf und hielt ihr lächelnd die Schüssel mit dem Kräuterquark entgegen. »Quark?«
Mimi nickte. »Danke.« Das flackernde Licht der Kerzen schimmerte auf dem ebenmäßigen Gesicht ihres Jugendfreundes. Seine Augen glitzerten. Was er wohl all die Jahre getrieben hatte? Lebte er alleine, oder hatte er eine Freundin? Zumindest machte er nicht den Eindruck, als wäre er sich nicht über seine anziehende Wirkung bewusst. Als Pilot war es sicherlich schwierig, eine feste
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