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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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sollte es nicht wagen, aus ihrem Zimmer zu kommen und ihm eine Standpauke über seine schlechte Verfassung zu halten. Jedes Mal, wenn die beiden sich über den Weg liefen, sagte sie: »Sie sehen blass aus!«
    Er hob die Schreibtischplatte seines Sekretärs an und tastete in dem darunterliegenden Kasten nach den drei Briefstapeln, die Clara ihm zwischen 1928 und 1933 geschrieben hatte.
    »Monsieur Barreto?«
    Jacques fuhr herum. In der offenen Zimmertür stand Yvette im bodenlangen Nachthemd, das vom Flurlicht seltsam entrückt erhellt wurde. »Geht es Ihnen nicht gut?«
    »Doch. Doch. Ich suche nur etwas.« Sie sollte verschwinden! Er hatte zu tun.
    »Kann ich Ihnen helfen?« Barfuß machte sie ein paar Schritte ins Arbeitszimmer. Sie tastete nach dem Lichtschalter.
    »Tu das nicht!« Jacques hob die Hand, und seine Stimme klang rau und brüchig, beinahe aggressiv.
    Überrascht von der Härte in seiner Stimme wich Yvette in Richtung Tür zurück. »Verzeihen Sie, Monsieur Barreto. Ich wollte Sie nicht …«
    »Ist schon gut. Geh wieder ins Bett.«
    Doch das Mädchen rührte sich nicht. Unschlüssig stand dieses junge Ding im hellen Flur herum. Die dicken, sandblonden Haare zu einem Zopf geflochten. Was wollte sie noch? »Geh!«
    Jacques fuchtelte mit seinen Händen, als würde er ein lästiges Vieh vertreiben. Was für ein grauenhafter Mensch war aus ihm geworden! Yvette wandte sich ab und verschwand aus der offenen Tür. Er hörte, wie am Ende des Gangs ihre Zimmertür ins Schloss fiel und der Schlüssel zweimal herumgedreht wurde. Das arme Mädchen. Er hatte ihr Angst gemacht. Wenn sie ihn auch verließ, blieb er vollkommen allein zurück. Sollte er ihr nachgehen, an ihre Tür klopfen und sich für seine Grobheit entschuldigen? Um am Ende mit ihr über seinen eigenartigen Gemütszustand ins Gespräch zu kommen? Was konnte sie ihm raten? Sie wusste nicht, wie grausam das Leben sein konnte.
    Er griff nach den zusammengebundenen Briefstapeln und verschwand damit die Treppe hinunter in die Küche, wo er eine leere Blechdose vom Bord nahm, in der Daria früher Mehl aufbewahrt hatte. Dann trat er hinaus in den Garten, wo hinter den Wolkenschlieren der Mond vorbeizog und die Zypressen sich gespenstisch gegen den Himmel abhoben. Er ging in den Schuppen, holte den Spaten und verschwand in die Weinberge, begleitet vom müden Zirpen der Zikaden, das vom Quaken der Frösche am Goldfischbecken durchbrochen wurde. Was er nun im Begriff war zu tun, hätte er längst tun müssen. Er musste all diese Briefe aus seinem Leben verbannen. Sie hatten Clara, ihm und Daria nichts als Unglück gebracht.
    Dunst hing zwischen den Reben, staute sich auf dem schmalen Weg vor ihm und reflektierte das bläuliche Licht des Mondes, der sich nun hinter den Wolken hervorschob. Jacques fröstelte. Es roch nach frischer Erde. Er war lange nicht mehr hier draußen zwischen den Weinstöcken gewesen. Am Ende des Weges stach er den Spaten mit Wucht zwischen die Pflanzen. Er grub ein tiefes Loch, in das er die Blechdose mit Claras gesammelten Briefen versenkte. Er schüttete das Loch wieder zu, häufte Steine darauf und hielt einen Moment inne. Erst dann verstand er, was er gerade getan hatte. Er hatte Clara zu Grabe getragen. Ihre Worte. Ihre Liebe. Ihr Warten. Ihr Verlangen. Ihre Ablehnung.
    Er kniete sich auf den steinigen Untergrund. Er faltete die Hände im Schoß seiner ausgebeulten Leinenhose, die mit roten Beerenflecken überzogen war. Sein Körper erzitterte unter heftigen Schluchzern, als würden sie die Erinnerungen aus ihm herausschütteln wollen. Das blond gelockte Mädchen auf den Felsen in seiner Heimat. Ihre farbbeklecksten Finger. Ihr Lächeln. Ihre hellblauen Augen. Warum konnte er sie nicht einfach aus der Erinnerung zu sich in die Gegenwart ziehen, hierher, zu ihm, in die Weinberge, um ihre Stimme zu hören, ihren Körper an seinem zu spüren? Er hatte sie nie geküsst. Sollte er sterben, ohne sie jemals geküsst zu haben? Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. »Monsieur Barreto?«
    Yvette kniete sich in ihrem weißen Nachthemd neben ihn. Ihr junges, ahnungsloses Gesicht war seinem ganz nah. Sie flüsterte zärtlich: »Was tun Sie hier draußen?«
    »Ich weiß es nicht.« Er atmete tief ein und wischte sich mit dem Hemdärmel über die feuchten Augen. »Ich weiß es nicht.«
    Ihre Hand streichelte über seinen Rücken. Ihre Stimme war dicht an seinem Ohr. »Kommen Sie mit mir ins Haus. Ich mache Ihnen einen Kaffee, und dann

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