Je länger, je lieber - Roman
scheute sich davor, es endlich auszusprechen, weil sie den eingestandenen Verlust nicht überleben würde.
Aber es war auch noch etwas anderes, was ihr das Herz beschwerte. Es war die Furcht vor dem Fremden, der da kommen würde. Kriegskameraden, die im letzten Frühjahr aus der Gefangenschaft zurückgekehrt waren, hatten Grüße ausgerichtet und geschrieben, dass Gustav gesund sei und den anderen Kraft gäbe, die Nöte der Gefangenschaft zu ertragen. Clara fröstelte. Würde sie ihn überhaupt nach all den Jahren wiedererkennen?
»Komm, mein Herz.« Clara griff nach der schmalen Jungenhand und zog ihn mit sich auf die Veranda. Dort kniete sie sich noch einmal vor ihn hin und sah ihm in diese dunkelgrünen Augen.
»Hör gut zu, Jakob.« Sie holte tief Luft, um sich ganz auf das zu besinnen, was sie dem Kerlchen und sich selbst einschärfen musste, damit sie endlich und vollkommen an diese Lüge glaubten. »Auf dieser Welt geschehen lauter unvorhergesehene Dinge, mit denen wir lernen müssen umzugehen. Es geschehen Dinge, die unseren Mut und unsere Kraft übersteigen. Es geschehen Dinge, denen wir uns nicht entziehen können. Aber manchmal können wir diejenigen, die wir lieben, vor diesen Dingen schützen, indem wir sie ihnen verschweigen. Verstehst du mich?«
Der Junge sah sie an und doch wieder nicht, als wäre er in seinem Inneren an einen Ort verschwunden, zu dem sie keinen Zugang hatte. »Ich weiß nicht.«
Clara holte tief Luft. »Ich erkläre es dir. Ich hatte mal einen besten Freund. Er hat sich als Vater eines kleinen Jungen ausgegeben, der seinen eigenen Vater schon als Baby verloren hatte.Der Junge hat nie davon erfahren, dass mein bester Freund gar nicht sein wirklicher Vater war. Also war er nie traurig, weil er dachte, dass er einen Vati hat. Verstehst du?«
Jakob nickte mit leerem Blick. »Ja. Das ist nett von deinem besten Freund.«
Clara lächelte unsicher. »Das finde ich auch. Und wir zwei, du und ich, wir machen es einfach andersherum.«
»Der Junge hat einen anderen Vater bekommen. Unser Vati bekommt einen anderen Sohn. So wird er nie traurig sein. Richtig?«
»Ja, mein Herz. Genauso ist es.« Clara erhob sich. »Und darum wird er dich lieben wie seinen eigenen Sohn.«
»Aber werde ich ihn lieben wie meinen eigenen Vater?« Jakob legte seinen Kopf in den Nacken. Über ihnen rauschten die weit ausladenden Baumkronen der Erlen, die das vormittägliche Sonnenlicht flimmernd zu ihnen hindurchließen und Lichtreflexe auf Claras und Jakobs Körper warfen.
»Die wenigsten Menschen lieben sich vom ersten Augenblick an. Meist ist es harte Arbeit. Auch ich werde immer wieder mein Herz öffnen müssen, ihn zu lieben. Aber er wird es uns leicht machen, damit wir zusammenhalten können.«
Hand in Hand stiegen sie die Verandastufen hinunter auf den sandigen Vorplatz, wo Claras petrolfarbener VW-Käfer stand. Sie hielt Jakob die Beifahrertür auf. Als er auf den Sitz geklettert war, schlug sie die Tür zu und setzte sich auf der anderen Seite hinter das Steuer. Bevor sie den Motor anließ, legte sie dem Jungen ihre eisige Hand auf den Oberschenkel. »Mein Sohn«, sie sagte es zum ersten Mal. »Mein Sohn. Das ist der Lauf des Lebens. Es geschehen Dinge, die wir vor den anderen verheimlichen müssen, damit es ihnen möglich ist weiterzuleben. Das ist eine schwere Prüfung. Die Menschen, die Geheimnisse in sich bergen, haben eine gewaltige Last zu tragen, die sie gut behüten müssen, damit niemand sie entdeckt. Manchmal werden die Geheimnisse zum Gefängnis. Doch damit die anderen frei bleiben, nimmt man diese Bürde gern auf sich. Das ist Liebe.«
31
Montreal, 2013
»Hallo?« Mimi hielt sich das eine Ohr zu, während sie sich ihr Handy ans andere presste. Sie stand am Sand wichstand in der Abflughalle, und eine schallende Durchsage jagte die nächste.
Vielleicht hätte sie mit diesem Anruf warten sollen, bis sie wieder in Deutschland war. Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren. Und ein paar Minuten blieben ihr noch, bis ihr Flieger ging. Am anderen Ende der Leitung redete die Empfangsdame vom Casado-Museum in Barcelona auf Spanisch auf sie ein und wollte partout nicht verstehen, dass Mimi einfach nur mit Antoni Fuchs, dem Kurator, verbunden werden wollte. Seinen Namen hatte sie aus dem Internet. Er sollte ihr lediglich die simple Frage beantworten, in wessen Besitz sich das Casado-Gemälde mit den beiden badenden Mädchen befand. Sie hätte nie gedacht, dass es so kompliziert sein würde,
Weitere Kostenlose Bücher