Je länger, je lieber - Roman
vergessen, was passiert ist, und nach vorn schauen.« Sie lächelte dem kleinen Jungen aufmunternd zu, als hätte sie etwas ganz Wunderbares gesagt. Doch ihre eiskalten Hände zitterten, als sie dem Jungen, der nicht ihr Sohn war, die Wolljacke zuknöpfte. Sie standen in der dämmrigen Halle. Sie beide waren allein zurückgeblieben. All die Kinder, die Clara nach den Kriegswirren bei sich aufgenommen hatte, waren nun bei Pflegefamilien oder in einem Heim untergekommen. Nur das Mädchen Margarete war geblieben. Sie wohnte jetzt drüben im Gesindehaus und packte im Haushalt und im Garten mit an. Bis heute gab sich das arme Mädchen die Schuld an Rehleins Tod, weil sie ihn bei den kleineren Kindern im Obstgarten zurückgelassen hatte, um diesen Jakob hier zu Clara ins Haus zu tragen, aus Furcht, er könnte sich eine so schlimme Kopfverletzung zugezogen haben, dass er sterben würde.
War es dem Mädchen zu verübeln gewesen? Damals, vor vier Jahren, war es gerade mal zwölf Jahre alt. Welches Mädchen in ihrem Alter hätte nicht so gehandelt? In ihrem zarten Alter hatte sie viel zu viel Verantwortung tragen müssen. Sie hatte geholfen, die kleineren Kinder zu waschen, zu füttern, sie hatte sie beaufsichtigt, getröstet, und abends zum Einschlafen hatte sie ihnen etwas vorgelesen. Nein, Maggy hatte ihr Bestmögliches gegeben. Clara hätte ihr Blondköpfchen nicht auf ihren Schoß setzen dürfen, um für einen Augenblick der Sehnsucht im Klavierzimmer zu verschwinden. Sie hätte niemals wieder anfangen dürfen, Jacques zu schreiben. Sie musste versuchen, all das wiedergutzumachen, was sie verbrochen hatte. Sie musste Gustav, dem Mann, dem sie ewige Treue geschworen hatte, der nach Jahren der Abwesenheit zurückkehrte, ein Zuhause schenken.
War es richtig, was sie vorhatte?
Jacques’ Karten und Briefe und das Fotoalbum aus Cadaqués lagen noch immer im Klavierkasten versteckt. Ihre Vergangenheit, von der sie nicht lassen konnte, die ihrem Sohn das Leben gekostet hatten – und noch immer brachte sie es nicht übers Herz, diese Zeugnisse ihrer ewigen, unerfüllten Liebe zu vernichten.
»Wir müssen uns beeilen, der Vati kommt gleich am Bahnhof an«, sagte Clara, nahm ihren Mantel vom Garderobenhaken und setzte sich den breitkrempigen Hut auf. »Er wird müde und erschöpft sein von der tagelangen Zugfahrt.«
»Wird er es nicht merken?« Jakobs Worte hatten einen seltsam singenden und für die Gegend fremd klingenden Dialekt, den Clara ihm im Laufe der letzten Jahre nicht ganz hatte abtrainieren können. Tagtäglich hatten sie wieder und wieder in der Küche am Tisch gesessen und geübt. Jakob hatte Fortschritte gemacht. Sein Deutsch war fließend. Nur eben durchwoben von diesem fremden Klang, die kehlige weiche Aussprache mancher Konsonanten, die Clara auf die Gesellschaft der Flüchtlingskinder schieben würde.
»Nein, mein Herz. Das wird der Vati nicht.« Clara drückte dem kleinen Jungen einen fahrigen Kuss auf die Stirn. »Solange du ihn liebst.«
Mit dieser Frage hatte Jakob laut ausgesprochen, was sie befürchtete. Ihr Mann würde merken, dass dieses Kind nicht sein eigenes war. Sie hatte ihm nicht geschrieben, was geschehen war. Würde er entdecken, dass Clara ihn die letzten vier Jahre in all ihren Briefen, die sie ihm in die Kriegsgefangenschaft geschickt hatte, belogen und ihm diesen Jungen als seinen Sohn verkauft hatte? Sie hatte ihn einfach nur vor noch mehr Trauer und Verzweiflung schützen wollen. Sie hatte Gustav Hoffnung geben wollen, etwas, worauf er sich freuen konnte, etwas, worauf er all seine Fantasie und Liebe richten konnte, um die harten Winter, die schwere körperliche Arbeit in den Lagern im Ural zu überleben.
Eines Nachts hatten Clara und Margarete sich im Kerzenschein, im Wintergarten sitzend, geschworen, nie wieder ein Sterbenswort über Rehlein zu verlieren. Sie hatten sich an den Händen gehalten und diesen Teil der Vergangenheit für immer in ein Geheimnis eingeschlossen. Margarete würde sie nicht verraten.
Für einen Moment sah sie sich im Spiegel an. War sie eine böse Frau? Die früher so spitzbübischen Züge um ihren Mund waren scharf und tief. Sie hätte Gustav einfach verlassen können, anstatt ihm etwas vorzumachen. Aber sie war es ihrem Rehlein schuldig, seinen Vati nicht alleinzulassen. Vielleicht brachte sie es aber auch nicht übers Herz, den Tod ihres Kindes tatsächlich anzuerkennen, und wollte weiter in dem Gefühl leben, dass es noch immer nah bei ihr war. Sie
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