Je mehr ich dir gebe (German Edition)
dazwischenkommt, wird zermalmt. Wenn sie aus dem Fenster schaut, zerreißt sie die Sehnsucht, oder das Heimweh – das lässt sich nicht unterscheiden. Und nur eins kann ihr all diese Schmerzen nehmen: Jonas. Er ist das Wasser für ihren Durst. Wäre er nur bei ihr, könnte er sie nur berühren! Aber ausgerechnet das ist nicht mehr möglich. Sie versteht das nicht. Heute ist so ein Tag, wo es keine Zukunft gibt.
Es ist wie in dem Film Little Fish , wo Cate Blanchett eine ehemalige Heroinabhängige spielt, Tracy, die seit vier Jahren clean ist und sich ein »normales« Leben aufbauen möchte. Aber in jeder Bewegung, in jedem Blick, in jedem Gedanken steckt die Sehnsucht nach der Droge. Tracey braucht all ihre Kraft, um ihren Alltag aufrechtzuerhalten. Sie ist fahrig, verschreckt, immer ganz nah an der Bahnhofstoilette, wo sie sich doch nur wieder einen Schuss zu setzen braucht, um von dem Elend »Realität« befreit zu werden. Aber sie hält durch, kämpft jeden Tag aufs Neue und weiß, dieser Kampf hört nie auf, ihr Leben lang. Was für eine trübe Aussicht!
Julia ist nicht heroinabhängig und Jonas keine Droge, trotzdem fühlt sie sich genau wie Tracy, die Cate Blanchett so wahnsinnig gut spielt: zerbrechlich. Ein Windhauch aus der falschen Richtung und sie ist nur noch ein Häufchen Scherben. Winterglas.
Kolja sieht sie jeden Tag. Charly nicht. Sie ist so anstrengend in der letzten Zeit, versucht alles, um Julia abzulenken, sie aufzumuntern, sie wieder in ihr »altes Leben« zurückzuholen, und merkt nicht, dass es für Julia kein »altes Leben« mehr gibt. Jonas ist nicht mehr da – es gibt kein Zurück mehr. Aber das schnallt Charly einfach nicht. Kolja versteht sie. Er ebnet ihr einen Weg zu Jonas. Er ist die Nabelschnur von ihr zu ihm.
Bei Anne hat sie sich nicht mehr gemeldet. Anne hat sich auch nicht mehr bei ihr gemeldet. Ob sie vielleicht doch mal anrufen soll?
Heute geht sie mit Mama einkaufen. Sie weiß, was Spaghetti sind, legt tiefgefrorenen Blattspinat in den Korb, nimmt den fettarmen Joghurt aus dem Regal. Das läuft wie am Schnürchen. Mama hat Lust auf ein Eis. Sie steht an der Eistruhe. »Guck mal, was es wieder für neue Sorten gibt.« – Warum sagt sie das? Sie nimmt ja doch immer wieder eine Waffeltüte. Und sie hat das Stichwort gegeben: neue Eissorten. Von da aus denkt Julia ganz automatisch an »Speiseeis-Designer« – das wäre Jonas vielleicht geworden. Er hätte sich auf Sorbets spezialisiert, nicht nur süß, auch herzhaft. Tomatensorbet auf Mozzarella an Basilikumschaum. Davon hatte er mal geschwärmt, als sie bei ihm in der Küche saß.
»Das hört sich eher nach Haute Cuisine an als nach Speiseeis-Designer«, hatte Julia gesagt.
»Heutzutage muss man die Genres mischen. Das ist in der Musik auch so«, hatte Jonas geantwortet. Er war in letzter Zeit öfter als DJ auf Partys unterwegs. Da mixte er schon mal die Genres, aber nicht so krass wie Nina Hagen früher, die ja sogar Oper und Pop gemischt hat.
Mir ist heiß!
Ich bin heiß!
Ach warum sind denn nicht alle so heiß?
Ja, isses denn ein Wunder?
Julia hat plötzlich Nina Hagens Stimme im Ohr, sieht sich mit Jonas von der Küche in sein Zimmer gehen. Sie setzt sich aufs Sofa, zieht sich langsam aus, bis auf die Bluse, die knöpft sie auf, repetiert dabei Nina Hagen. Ihr Herzschlag ist der Rhythmus. Sie muss sich ganz auf die Atmung konzentrieren, damit sie jeden Buchstaben betonen kann, besonders die letzten Silben, die man gern verschluckt. Sie zieht die Beine aufs Sofa, stellt die Füße nebeneinander. Die Knie verdecken ihre Brust. Jonas schaut ihr zu, wie sie langsam die Beine öffnet.
Ich brauche Wasser,
denn ich schwitze auf der Ritze!
Ja, sie schwitzt, schimmert silbrig – mit seinem Blick fährt er über ihre Ritze, die sich – ganz langsam – öffnet, wie eine Mohnblüte im Morgentau.
Julia muss sich an der Eistruhe abstützen, ihre Beine sind weich, ihr ist, als hätten sich alle Adern verknotet, als zerrten sie an ihr, rissen an ihrem Herzen wie an einer Löwenzahnwurzel. – Man spürt den Körper bewusster, kleinste Bewegungen können so viel ausmachen. Selbst die Zunge kann verspannt sein. Übung Nr. 10: Setze dich aufrecht hin und konzentriere dich auf deinen Mund. Lass deine Zunge ganz locker. Sie soll mit der Spitze die unteren Zähne berühren, aber nicht gegen den Gaumen gedrückt werden. Merkst du, dass selbst die Zunge oft unbewusst unnötigen Spannungen aussetzt wird?
Mama nimmt
Weitere Kostenlose Bücher