Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Zunge, umflattert sie wie ein weißer Schmetterling, dann küsst er zu und Julia sinkt in seine Arme.
Er hält sie und der Wind spielt mit ihren Haaren, seine weiche Zunge spielt in ihrem Mund. Es ist wie auf dem Wasser liegen und in die Sonne blinzeln. Sie lässt sich treiben, zu Jonas, fließt mit ihm davon. Dann krabbelt etwas unter ihren Rock. Es kitzelt, Julia zuckt zusammen, wischt sich den Mund ab. – Eine kleine gelbe Raupe auf ihrem Bein. Sie schnippt sie weg.
Kolja guckt sie verträumt an. »Kleine Julia«, haucht er und tupft ihr lauter kleine Küsse neben den Mund. »Du bist so schön.« Er legt den Kopf schräg, schaut, als könne er es nicht fassen. Er hat immer noch Tränen in den Augen. »Ich bin erst froh, wenn es dir gut geht. Jonas auch.«
KAPITEL 14
Eigentlich
Eigentlich geht es Julia ganz gut. Der Korkenzieher ist raus aus ihrer Brust, bohrt nicht mehr in ihr Herz, wenn sie morgens aufwacht. Sie hat auch wieder mehr Kraft, aufzustehen, auch wenn sie nicht genau weiß, wofür. Ihre Kraft reicht aus, um zu dem kleinen Altar in ihrem Zimmer zu gehen, für den sie nun Jonas’ Rasierschaum gekauft hat: L’oreal . Sie sprüht ein bisschen Schaum auf ihren Handrücken, verreibt ihn und holt sich die Lederjacke unter dem Bett hervor, zieht sie an, kuschelt sich ein und dreht sich auf die Seite.
Draußen, in der Welt, tut sich nichts. Sommerferienstau. Alle sind weg, nur Kolja ist da, jeden Tag, ganz für sie allein. Er sagt, Jonas will, dass er auf sie aufpasst. Das will sie auch. Sie vertraut ihm. Sie küssen sich jetzt jeden Tag. Zuerst hat sie gedacht: Du kannst doch nicht den einen küssen und an den anderen denken, zumal der andere gestorben ist. Aber jetzt weiß sie, es gibt nur den einen und der ist noch da. Und durch den anderen kann sie ihm ganz nahe kommen.
Kolja sagt, es sei völlig okay, wenn sie an Jonas denke. Hauptsache, es gehe ihr gut dabei. »Kleine Julia«, flüstert er ihr wieder ins Ohr.
Sie gehen spazieren oder ins Kino oder Eis essen. Er möchte am liebsten mit ihr allein sein, er sagt, dann könne er ihr mehr Energie geben, die sie näher zu Jonas bringt. Diese Energie sei natürlich kompakter, wenn sie nicht durch andere gestört würde.
Gestern haben sie seine Kumpels am Teufelssee getroffen, sie spielten Volleyball. Anne war auch dabei und hat sie ganz lange angeguckt, als warte sie auf etwas. Glaubt sie etwa, Julia damit doch noch zu einer ihrer Sitzungen zu bringen? Kolja wäre gleich weitergegangen, aber Julia wollte gern ein bisschen mitspielen. Sie merkte, er tat es nur ihr zuliebe. Kolja wirkte in Annes Nähe nervös, war auch nicht bei der Sache, so viele Bälle, die er verstolperte. Und nach zehn Minuten hatte er genug. Julia wollte dann auch nicht allein weiterspielen, schließlich waren sie ja zusammen hergekommen. Anne sagte zum Abschied: »See you!«, und schaute nur sie dabei an.
Jetzt gehen sie am Kanal entlang, den schmalen Weg durch Kreuzberg 36. Kolja hat sie mit dem Auto abgeholt. Am Paul-Linke-Ufer haben sie geparkt. Sie wollen nach Neukölln, zu ihm. Er möchte ihr seine Wohnung zeigen.
Das Wasser plätschert leise an die Kielmauern, als wolle es nicht stören. Vor ihnen schlendern drei türkische Männer mit Gebetsketten in der Hand. Sie überholen die Männer, weichen Fahrrädern und gepiercten Müttern mit Kinderwagen aus; auf dem Wasser tuckern Touristenschiffe vorbei. Vom offenen Deck gucken die Leute alle gleichzeitig in diese Richtung, mal in die andere, »… und da vorn, am Maybachufer, befindet sich der türkische Markt«, spricht an Deck ein Mann in ein Mikrofon. »Und jetzt kommen wir zu den berühmten Baller-Häusern – wenn Sie bitte nach rechts schauen –, die Anfang der 80er von dem Ehepaar Baller im Rahmen der internationalen Bauausstellung errichtet wurden und …«
Kolja legt seinen Arm um ihre Hüfte und zieht sie ganz eng an sich heran, hält sie fest und spricht so leise, dass sie ihm die Wange entgegenhält, seinen Atem auf ihrer Haut spürt, manchmal auch seine Lippen. Wenn er von Jonas erzählt, ist seine Stimme besonders weich. Sie kann nie genug über ihn hören, egal, was es ist, Hauptsache, Kolja erzählt ihr von Jonas. Meistens fängt er mit »früher« an.
»Früher sind wir liebend gern auf Bäume geklettert. Meine Oma wohnte auf dem Land, bei Fürstenwalde. Einmal sind wir bei ihr auf eine riesige Kiefer geklettert, bis oben hin, und Jonas kam nicht mehr runter. Hing da in den Zweigen wie eine junge
Weitere Kostenlose Bücher