Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Knöchel, jede Bewegung, um an jeden Winkel deiner selbst zu kommen, denn der Mensch ist ein Organismus, in dem alle geistigen, seelischen und körperlichen Prozesse untrennbar miteinander verbunden sind.
Sie biegt von dem größeren Weg ab, geht den schmalen Trampelpfad hinauf, durch den alten Teil des Friedhofs, zu den riesigen, verfallenen Gruften mit den rostigen Eisengittern. Engelskulpturen schauen sie an. Abgebröckelte Schultern, abgebrochene Arme – Flügel fehlen fast immer. Ewige Bewacher der Toten, die längst nicht mehr fliegen können. Darüber können die Krähen nur lachen.
In den Gruften schwarze Löcher als Fenster. Schwere Holztüren sind mit Eisenketten verschlossen. Julia drängt es, näher an die Gruften heranzugehen, hineinzuschauen, es ist ein bisschen, als stünde sie an einem Abgrund, mit dieser Angst und Lust zugleich, hinabzuspringen. Aber sie traut sich nicht, näher zu kommen. Weit und breit niemand zu sehen. Nur die Krähen in den Bäumen flattern von Ast zu Ast, sie folgen ihr.
Julia hat die silberne Zigarettenspitze dabei, in ihrer Hosentasche. Bei jedem Schritt tastet sie nach ihr. Sie nimmt sie heraus, kühl und glatt und lang. Sie kann Jonas’ Fingerabdrücke darauf spüren. Sie berührt sie mit den Lippen.
Julia geht durchs hohe Gras, alles ist verwildert, mit Efeu umrankt, an den abgebröckelten Mauern wuchern Brennnesseln. Sie pflückt Gänseblümchen, Mohnblumen und Löwenzahn.
Im neuen Teil vom Friedhof ist es ihr zu bunt. Zu viele Kränze und Schleifen. Auch auf Jonas’ Grab. Wie es wohl seinen Eltern geht? Julia setzt sich auf eine Bank unter einer Eiche. Es ist so schön ruhig hier. Totenstill. Sie legt die Blumen neben sich auf die Bank, holt sich eine Zigarette aus der Tasche, steckt sie in die Spitze und zündet sie an. Sie raucht und weint. Beides kratzt im Hals, in den Augen. Jonas schaut ihr nicht zu. Er ist gar nicht hier. Sie spürt, wie weit weg er ist. Niemand sonst soll sie so rauchen sehen, mit silberner Spitze. Der Augenblick, den sie zusammen hatten, soll einzigartig bleiben, wie ihre Liebe. Alles soll so bleiben, wie es war, denn dann ist es nicht vorbei.
Sie zieht die Zigarette aus der silbernen Spitze, tritt sie aus, nimmt die Spitze und bohrt sie tief in die Erde. Dann legt sie die Blumen aufs Grab. Die Blütenblätter vom Mohn fangen schon an zu welken.
Bevor sie ihr Fahrrad aufschließt, schaltet sie ihr Handy ein. Kolja hat eine SMS geschrieben: Wollen wir heute Abend ins »Haus am See«? Da legt ein DJ aus Leipzig auf. Gefällt dir bestimmt! – Julia muss schon wieder weinen. Ach, Kolja ist so aufmerksam, selbstlos, immer auf ihr Wohl bedacht. Er tut alles, um sie abzulenken und aufzumuntern. Ach, Kolja!
Sie will schreiben: Ja, warum nicht , aber sie schreibt: Ja, gern . Und es geht ihr gleich besser.
Die Psychologin hat recht, sie muss positiv denken. Die kleinen Schritte sind wichtig! Das weiß sie ja selbst. Deshalb wird sie auch nicht mehr zu Frau Brausen gehen. Außerdem hat sie ja Kolja, der hilft ihr mehr als jede Psychologin.
KAPITEL 17
Schaum
Julia rennt Treppen hinab, in eine Schwimmhalle, springt ins Wasser, taucht unter – trudelt in die Tiefe. Alles ist blau und milchig. Eine kleine krumme Frau steht auf dem Grund und schält Kartoffeln. Julia taucht näher. Es ist eine Greisin, völlig verrunzelt, mit weißen, langen Haaren. Julia erschreckt sich vor der Alten, die sie gleichzeitig auch anzieht. Kennt sie sie nicht von irgendwoher? Sie stößt sich vom Grund ab, schießt kerzengerade an ihr vorbei, erreicht die Oberfläche, zuerst mit den Armen, dann mit dem Kopf. – Luft!
Ihr Herz läuft auf Hochtouren, gleich springt es ihr aus der Brust. In den Schläfen hämmert es. Als sie sich das Wasser aus den Augen reibt, sieht sie eine geschälte Kartoffel an ihr vorbeischaukeln. Sie greift nach ihr, will damit an Land, aber der Beckenrand entfernt sich immer weiter, je näher sie kommt. Die Kartoffel verwandelt sich in einen Schuh. Der Schuh ist schwer. Mit dem Schuh in der Hand kann sie nicht richtig schwimmen, kann ihn auch nicht loslassen, sucht mit der anderen Hand nach einem Halt, fasst immer wieder ins Leere, droht unterzugehen. Das Bild der Alten taucht vor ihr auf, sie lächelt sie an, streckt eine runzelige Hand aus und will sie zurück auf den Grund locken. Plötzlich weiß sie, wer die Greisin ist: sie selbst!
Luftblasen steigen auf. Jonas ruft nach ihr. Sie kann ihn nicht sehen, nur hören, er ruft, sie
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